Glaubt man den verschiedenen Studien, die sowohl in der EU als auch in den USA zur Befindlichkeit junger Menschen in Auftrag gegeben wurden, dann ist die Perspektive für diese Gesellschaften nicht berauschend. Denn die Jugend hat keinen Bock auf die Zukunft. Mehrheitlich wird sie als düster beschrieben, wenn es überhaupt noch eine geben sollte.
Das Grundgefühl, das den skeptischen Prognosen zugrunde liegt, ist die Angst. Angst vor dem Klimakollaps, Angst vor dem Atomkrieg, Angst vor sozialer Kälte, Angst vor gravierenden Ungerechtigkeiten, Angst vor Vereinsamung.
Was die heutige Jugend in den besagten Ländern von ihren Vorgängerinnen unterscheidet, ist die Grundstimmung. Die negativen Prognosen vergangener Tage lösten Rebellion und Protest aus, heute, das ist deutlich zu lesen, überwiegt die Tendenz zur Depression (1, 2, 3, 4, 5, 6).
Das Resultat des Wirtschaftsliberalismus
Das Niederschmetternde an den Erhebungen ist die Tatsache, dass über 50 Prozent der Befragten den oben gemachten Aussagen zustimmen. Bevor allerdings voreilige Schlüsse gezogen werden, sei noch angemerkt, dass es eine fatale Fehlleistung wäre, von der dargestellten Fokus-Gruppe auf die gesamte Menschheit zu schließen. Ein Fehler, der zu den westlichen Standards gehört und der zunehmend zum Niedergang des Wirtschafts- und Kulturraumes beiträgt.
Quantitativ repräsentiert der Westen ungefähr ein Zehntel der Weltbevölkerung. Eine adäquate Erhebung, die China, Brasilien, Indien, Russland, Indonesien, Pakistan, den Iran und diverse afrikanische Länder mit einschlösse, besagte etwas über eine weltweite Tendenz. Nicht, dass davon auszugehen wäre, dass der Rest am Weltjugendtag kollektiv Hurra schrie, aber ein differenzierteres Bild käme heraus, und, so meine These, von einer depressiven Grundstimmung wäre keine Rede.
Was die Zerstörung der Lebensgrundlagen, die Vereinsamung des Individuums, eklatante Ungerechtigkeiten und die soziale Kälte anbetrifft, da liegen die realen Resultate eines Siegeszuges des Wirtschaftsliberalismus, der den Westen in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten geprägt hat, unverfälscht auf dem Tisch. Wer sich angesichts dessen über skeptische bis depressive Grundstimmungen wundert, der hat sein Dasein auf der sonnigen Seite genossen, während eine überwältigende Mehrheit in das Schattenreich migriert ist.
Neuen Mut zu schöpfen, aber wie?
Blickte man aus einer anderen Perspektive auf den Planeten, dann böten sich Prognosen an, die von der inneren Befindlichkeit des Westens her als Hochverrat gelten würden. Dann wäre nämlich zu schließen, dass der freie und Werte basierte Westen massiv an Einfluss auf der Welt verloren hätte, dass er seine eigenen Grundsätze und Prinzipien seit langer Zeit selbst demontiert hat und dabei ist, zu den Zeiten der Kreuzzüge, des Kolonialismus und des Imperialismus zurückzukehren und die innere Strahlkraft eingebüßt hat.
Das alles ist identifizierbar, eine Abkehr von dem Weg, der die kollektive jugendliche Depression auslöst, ist nicht in Sicht. Sich an denen, die für den Kurs der hirnlosen Verramschung aller Güter auf dem ganzen Globus Verantwortung tragen, abzuarbeiten, führt zu keinem Ergebnis. Überzeugen kann man die Agenten des Imperialismus nie, und die Jugend wird dadurch auch nicht aus der Depression geführt.
Aber welches sind die Zustände, die dazu führen, neuen Mut zu schöpfen und sich auf eine wie auch immer geartete Zukunft zu freuen? Sicherlich das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können, das Vertrauen, Kontrolle über das zu bekommen, was das eigene Schicksal betrifft, ein substanzieller Begriff über das Gemeinwohl, ein Grundverständnis von notwendiger Leistung und Belohnung und ein radikales Verständnis von individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung. Alles andere lenkt nur ab.
Quellen und Anmerkungen
(1) WELT (10.5.2022): “Langfristige gesellschaftliche Entwicklungen, die eine düstere Zukunft verheißen”. Auf https://www.welt.de/regionales/hamburg/plus238639787/Zukunftsforscher-Duestere-Zukunft-fuer-Generation-der-18-bis-34-Jaehrigen.html (abgerufen am 16.5.2022).
(2) Die Tagespost (4.5.2022): Jugend in der Dauerkrise. Auf https://www.die-tagespost.de/leben/familie/jugend-in-der-dauerkrise-art-228302 (abgerufen am 16.5.2022).
(3) Ärzte Zeitung (3.5.2022): Jugend im Krisenmodus? Psychische Gesundheit hat sich verschlechtert. Auf https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Jugend-im-Krisenmodus-Psychische-Gesundheit-hat-sich-verschlechtert-428810.html (abgerufen am 16.5.2022).
(4) Nordkurier (4.5.2022): Krieg und Klimawandel – eine Jugend im Krisenmodus. Auf https://www.nordkurier.de/ratgeber/krieg-und-klimandel-eine-jugend-im-krisenmodus-0448075505.html (abgerufen am 16.5.2022).
(5) Merkur (8.5.2022): Studie offenbart: Klimawandel, Corona und Krieg — fast ein Drittel der Jugendlichen hat Depressionen. Auf https://www.merkur.de/bayern/schwaben/kempten-westallgaeu-kreisbote/studie-offenbart-klimawandel-corona-und-krieg-fast-ein-drittel-der-jugendlichen-hat-depressionen-91524535.html (abgerufen am 16.5.2022).
(6) Domradio.de (4.5.2022): Studie sieht junge Menschen im Dauerkrisen-Modus. Religion kein Thema bei jungen Menschen? Auf https://www.domradio.de/artikel/studie-sieht-junge-menschen-im-dauerkrisen-modus (abgerufen am 16.5.2022).

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.