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Philosophie

Über die Wahrnehmung der Wirklichkeit

Entkoppelt sich durch einen in der Regel bewusst gesteuerten Prozess eine ‘theoretische Wirklichkeit’ von einer ‘praktischen Wirklichkeit’, entsteht eine Dissonanz. Wenn diese entkoppelte theoretische Wirklichkeit mit ihrem Inhalt Bestand haben soll, wird auf praktisch erfahrbare Konstruktionsmittel zurückgegriffen; denn es müssen bewusst Lebensumstände und Gegebenheiten erschaffen werden, welche den entkoppelten Inhalt der ‘theoretischen Wirklichkeit’ durch ihre praktische Erfahrbarkeit bestätigen.

Ein Annäherungsversuch…

Ich behaupte:

In der Wahrnehmung der Welt entstehen für jeden Menschen zwei Wirklichkeiten. Das ist einmal die ‘physisch erfahrbare, praktische Wirklichkeit’ (ich hau mir den Kopf an – es tut weh) und zum anderen die ‘vorstellbare, theoretisch-abstrakte Wirklichkeit’ (ich lese in der Zeitung, dass es in der Gegend, in der ich gerade bin, viele Raubüberfälle gibt). Ohne dass ich das selbst erlebt oder praktisch erfahren hätte, verändert sich nun aber meine theoretisch-abstrakte Wirklichkeit; mein Bild von dieser Gegend hat sich verändert.

Seltenst unterscheidet der Mensch in seinem eigenen Bewusstsein zwischen diesen beiden wahrgenommenen Wirklichkeiten.

Die physisch erfahrbare praktische Wirklichkeit und die vorstellbare theoretisch-abstrakte Wirklichkeit stehen in ständigem Austausch und in wechselseitiger Beziehung zueinander.

  • Der Einfachheit halber werden ich die beiden Wirklichkeiten ab jetzt die ‘praktische’ und die ‘theoretische Wirklichkeit’ nennen.

Was ich praktisch erfahre, wird in meiner theoretischen Wirklichkeit einen Abdruck hinterlassen und was ich theoretisch “erfahre” wird auf meine praktische Wirklichkeit Einfluss haben.

Im Folgenden werde ich versuchen, die theoretische Wirklichkeit, von der ich spreche, genauer zu definieren.

Es handelt sich um eine vorerst unpersönliche Wirklichkeit, um eine ‘allgemeine’ theoretische Wirklichkeit, die sich hauptsächlich aus allgemeinen, universellen Informationen speist und in dieser speziellen Weise nur in Gesellschaften und Gemeinschaften entstehen kann, sprich, dort, wo mehrere bis viele Menschen miteinander in Interaktion treten. Ob der Inhalt dieser Wirklichkeit wahr ist bzw. ob sich der Inhalt mit einer allgemeinen praktischen Wirklichkeit vereinbaren lässt, spielt erst einmal keine Rolle.

Auch wird sehr oft diese allgemeine theoretische Wirklichkeit als eine persönliche wahrgenommen; vor allem dann, wenn sich in der persönlichen Wirklichkeit eines Individuums viele Erfahrungen bieten, die sich gut in Zusammenhang bringen lassen mit der allgemeinen theoretischen Wirklichkeit.

Diese theoretische Wirklichkeit könnte man auch als ‘die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit’ bezeichnen und betrachten.

In der Konstruktion dieser Wirklichkeit können verschiedenste Mittel zum Einsatz kommen, welche sich meist dem theoretischen Teil des Lebens zuordnen lassen. Als Beispiel möchte ich zuerst nennen: Die mediale Geschichtserzählung in allen Formen; sei es Film, Fernsehen, Radio, Zeitung oder Werbung; die verschiedensten Formen von Kunst und Kultur können starke Mittel sein, und in der Politik werden oft mehrere der genannten Mittel vereint.

Das »Geschichten erzählen« ist dabei stets ein zentrales Element. Für die Konstruktion kann aber auch praktisch Erfahrbares bedient werden: Es können Gegebenheiten und Lebensumstände in einer Gesellschaft kreiert werden, die in ihrer Form, Bedeutung und Wirkung die herrschende theoretische Wirklichkeit unterstützen und/oder bestätigen und dabei praktisch erfahrbar sind.

Solche praktisch erfahrbaren Konstruktionsmittel können für die Stabilität und Aufrechterhaltung einer theoretischen Wirklichkeit unabdingbar sein; dies sei insbesondere in Bezug auf eine theoretische Wirklichkeit erwähnt, welche sich nicht mehr – oder kaum noch – mit einer (allgemeinen) praktischen Wirklichkeit vereinbaren lässt. Denn solange die beiden Wirklichkeiten in ihrem Inhalt übereinstimmen, bestätigen sie sich fortwährend gegenseitig.

Entkoppelt sich eine theoretische Wirklichkeit von einer praktischen, was in der Regel ein bewusst gesteuerter Prozess sein muss, entsteht eine Dissonanz. Und nun muss, wenn diese entkoppelte theoretische Wirklichkeit mit ihrem Inhalt bestehen bleiben soll, auf eben diese oben genannten praktisch erfahrbaren Konstruktionsmittel zurückgegriffen werden; es müssen bewusst Lebensumstände und Gegebenheiten erschaffen werden, welche den entkoppelten Inhalt der theoretischen Wirklichkeit durch ihre praktische Erfahrbarkeit bestätigen.

Hat man einmal dieses Rad ins Rollen gebracht und wurde die entstandene Dissonanz von der Mehrheit nicht bewusst wahrgenommen, so kann man davon ausgehen, dass nun die Mehrheit der Menschen, welche im Rahmen der eben beschriebenen Situation leben, selbst anfangen wird, das praktisch Erfahrbare der theoretischen Wirklichkeit anzupassen; und so werden diese Menschen, auf unbewusste Art und Weise, selbst zu Erschaffern von Lebensumständen und Gegebenheiten, welche die praktische und die theoretische Wirklichkeit wieder in Einklang bringen sollen. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer kognitiven Dissonanz (1) sprechen, die überwunden bzw. aufgelöst werden muss.

Aus dem Bauch heraus wird man möglicherweise annehmen, dass es meist die theoretische Wirklichkeit ist, die sich der praktischen angleichen muss. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall; je nachdem welcher Mittel sich die theoretische Wirklichkeit in ihrer Konstruktion bedient hat, kann es nicht selten geschehen, dass auf die eigenen Sinne, mit welchen die praktische Wirklichkeit erfahren wird, weniger vertraut wird als auf die internalisierte Stimme der (gesellschaftlich) konstruierten theoretischen Wirklichkeit.

So kann also eine praktische Wirklichkeit nach dem Abbild einer neu konstruierten theoretischen Wirklichkeit transformiert werden.

Die damit verbundene – oft im Unbewussten schlummernde – Fähigkeit des Menschen, unter imaginierten Umständen wahrhaftig zu empfinden, zu handeln und zu leben, muss vom Individuum bewusst erfasst und durchdrungen werden, denn nur dann kann dieselbe in gesunder Art ihre Kraft entfalten und dem einzelnen Individuum helfen, sich frei zu entfalten und sich zu dem zu entwickeln, was er/sie seiner/ihrer Möglichkeit nach ist. Wird diese Fähigkeit nicht bewusst erfasst und durchdrungen, so kann sie leicht von anderen Menschen missbraucht werden und man wird selbst Werkzeug und Diener für die Verwirklichung fremder Visionen.

Tritt mit mir in einen Diskurs.

Quellen und Anmerkungen

(1) In der Sozialpsychologie bezeichnet ‘Kognitive Dissonanz’ einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat wie beispielsweise Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten. Kognitionen sind mentale Ereignisse, die mit einer Bewertung verbunden sind. Zwischen diesen Kognitionen können Konflikte entstehen. Diese Konflikte werden als Dissonanzen bezeichnet.

Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

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Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.


Foto: Em M. (Unsplash.com)

Schauspieler

A.J. Gazquez, geboren und aufgewachsen in Süddeutschland, studierte Schauspiel in Wien, wo er nun auch lebt und arbeitet. Neben seinem künstlerischen Tätigsein beschäftigt er sich mit soziologischen und philosophischen Fragestellungen, die meist durch Beobachtungen im Alltagsleben entstehen.

Von A.J. Gazquez

A.J. Gazquez, geboren und aufgewachsen in Süddeutschland, studierte Schauspiel in Wien, wo er nun auch lebt und arbeitet. Neben seinem künstlerischen Tätigsein beschäftigt er sich mit soziologischen und philosophischen Fragestellungen, die meist durch Beobachtungen im Alltagsleben entstehen.

4 Antworten auf „Über die Wahrnehmung der Wirklichkeit“

Mal kurz..
Auch ein interessantes Phänomen ist, dass Städte (verdichtete Populationen) stärker zum Adaptieren von “Erzählungen/Ideen” (theo.Wirk.) neigen als ländlich Autarke – jedenfalls sofern sie von “Ureinwohnern” dominiert sind. Liegt einmal an der allgemeinen Entfremdung im Urbanen, aber vorallem am inhärenten Verstärkungseffekt der zur Schau gestellten Projektionen/Adaptionen. ..euphemistisch als Modernität/Progressivität bezeichnet.
;*)

1. Frage ich mich weshalb die Entkoppelung der theoretischen von der praktischen Wirklichkeit in der Regel ein bewusster Prozess sein muss. Selbst wenn man Krisenerscheinungen ausschließt, bieten Gesellschaften genug Anlässe (z. B. Erfahrung von Gewalt, Ungleichheit, inkompetenter Eliten, usw.), die Theorie und Praxis Entkoppeln. Ansonsten müssten sich herrschende Gruppen nicht so sehr um hegemoniale Narative sorgen. Auf individueller Ebene würde ich diesem Teil deiner These jedoch zustimmen (das Aufploppen einer Erkenntnis genügt nicht um zu verstehen und handlungsfähig zu werden).

2. Erinnern mich deine Ausführungen an Karl Poppers Begründung des Falsifikationismus (Reduktion vs. Induktion als Wissenschaftsmethode) mit dem Unterschied, dass du eher eine sozialtheoretische Perspektive einnimmst. Aber wahrscheinlich liegt dort auch der Ausgangspunkt deiner Überlegungen bzw. der Theorien auf deren Grundlage du arbeitest. Auch scheint mir dies auf den alten Streit zwischen der Überlegung (Idee, Theorie, Deduktion) und der Erfahrung (Materie, Praxis, Induktion) als Grundlage legitimer Erkenntnis zurück zu gehen.

3. Scheint das sozialtheoretische Problem, welches du beschreibst, stets dann aufzutreten, wenn eine Gesellschaftsformation und ihre ideellen Grundlagen keine zufriedenstellenden Erklärungen für auftretende Erfahrungen mehr finden. So wussten die mittelalterlichen Gelehrten nichts mit aristotelischem Denken, der sarazenischen Kultur und der Pest anzufangen. Es entstand der Rationalismus.
Heute erschöpfen sich postmoderne Theorien in Sprachspielen und benötigen oft einen Wulst an ceteris paribus Bedingungen nur um sich letztlich auf Phänomenbeschreibungen und eine niedere Moral der Akteure zu beschränken.

Danke für Deine Gedanken und deine Frage.
Zu Punkt 1 denke ich folgendes:

1) ich habe „bewusst ›gesteuerter‹ Prozess “ geschrieben und ich denke, dass dieses Wort für das was ich versuchte zu beschreiben essenziell ist.
Aber vielleicht könnte man das Wort „gesteuert(er)“ durch „veranlasst(er)“ oder „initiiert(er)“ ersetzen und kommt damit der Sache näher..

2) denke ich, dass man zwischen zwei Arten der Entkopplung unterscheiden muss: das eine ist die Entkopplung von einer bestehenden praktischen Wirklichkeit durch die (plötzliche) Veränderung derselben – diese Entkopplung könnte man vielleicht auch als “Nachhink-Effekt” bezeichnen – und die dann entkoppelte theoretische Wirklichkeit wird sich nach und nach der praktischen wieder angleichen; das andere ist der umgekehrte Prozess: die bewusste Veränderung oder der Neuentwurf einer theoretischen Wirklichkeit und die damit initiierte Transformation der praktischen nach der (neu entworfenen) theoretischen Wirklichkeit.
Die eine Entkopplung entsteht und die andere wird herbeigeführt. Einmal entsteht die Entkopplung dadurch, dass sich die praktische Wirklichkeit verändert und einmal dadurch, dass sich die theoretische verändert bzw verändert wird. Auf zweitere bezog ich mich.

Meine Gedanken zu dem Inhalt des Beitrages von A.J. Gazquez in der “Neuen Debatte” – “Über die Wahrnehmung der Wirklichkeit”:

Unser Leben ist ein immer währendes Untersuchen und Beeinflussen der Wirklichkeit sowie das Suchen nach und das Begreifen von Wahrheiten. Solange wir leben, versuchen wir, unser Dasein zu verlängern und die uns gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen.

Es fällt nicht leicht, Recht und Unrecht im Wechselspiel geschichtlicher Ereignisse zu erkennen und zu unterscheiden. Das Suchen nach Gerechtigkeit ist jedoch immer wieder historisch belegt und hat das Bewusstsein der Menschen maßgeblich beeinflusst. Besonders die Art und Weise des Umgangs mit Eigentum und vermeintlichem Besitz schafft Differenzierungen zwischen den Menschen, die wahrer Gerechtigkeit nicht entsprechen.

Besucher der Zeiten

Es fliegen die Schwalben so frei über Weiten,
ein Leben im Aufbruch durchsegeln der Zeiten.
Bald fliehend die Kälte, mit Sehnsucht und Scheu,
bleiben sie sich und den Lüften getreu

Und bringt milde Wärme das Frühjahr zurück,
erhält sich im Neuen ein altes Geschick.
Verkündend die Sonne verweilen sie hier
und suchen das Licht mit unendlicher Gier.

Es fliegen die Schwalben – Besucher der Zeiten
gehören dem Wind nur und endlosen Weiten.

FN

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