Wenn die Leidenschaften toben, ist es geraten, den sprichwörtlichen Schritt zurückzugehen, um mehr Abstand zu gewinnen und zu versuchen, die großen Linien zu erkennen. Schnell wird deutlich, dass vieles so neu nicht ist, wie es erscheint, und dass ein Quell der aktuellen Leidenschaft in einer großen Illusion besteht.
Den Kampf um Macht und Einfluss hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben; Imperien bekriegten sich, Zivilisationen wurden ruiniert, neue entstanden und das Spiel begann von vorne.
Mit der europäischen Aufklärung keimte das politische Ziel auf, diesem tödlichen Verlauf ein Ende zu setzen. Der Schlüssel dazu wurde in der Vernunft gesehen, die es möglich machen sollte, in jedem Konflikt einen zivilisatorischen Ausgleich zu finden, der das Schlachten aufgrund imperialer Gelüste beenden sollte. Besonders das 20. Jahrhundert verdeutlichte, dass dieses Ziel ein frommer Wunsch blieb. Interessant dabei ist das historische Gesetz, dass nach der Zerstörung die Sehnsucht nach Vernunft und zivilisatorischem Umgang besonders groß war.
Vom Krieg zur Philosophie der Geschichte
Der Dreißigjährige Krieg ist das beste Beispiel für die Bedingung, unter der die Vernunft bereit ist, für eine gewisse Zeit als Maß des Verkehrs untereinander zu fungieren. Der Westfälische Frieden, entstanden nach unbeschreiblichen Verheerungen auf dem europäischen Kontinent, schuf das Fundament einer Diplomatie, die auf den Prinzipien der Nichteinmischung und der gegenseitigen Augenhöhe basierte (1).
Der Erste Weltkrieg wiederum endete mit einer anderen Einsicht, dem Ressentiment und der Vergeltung, was seinerseits das Gen des Zweiten Weltkrieges in sich trug. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte für einen Augenblick die Vernunft zurück. Doch schon bald folgte der Kalte Krieg, das Spiel der Zerstörung begann aufs Neue und sein Ende war nicht das Ende der imperialen Gelüste.
Nun, da der Veitstanz der Leidenschaften wieder eine Hochzeit erlebt, sei die Lektüre eines Werkes empfohlen, das sehr dazu geeignet ist, den ratsamen Schritt zurückzutreten und mit kühlerem Gemüt die Ereignisse zu betrachten.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in seiner Philosophie nicht nur die Dialektik in ihre moderne Phase führte, sondern die Vernunft wie kein anderer als philosophische und historische Instanz etablierte, gesellte zu seinem lesenswerten Werk zur Geschichte der Philosophie auch Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte (2).
Allein die dort angestellten Betrachtungen der unterschiedlichen Weltkulturen und ihrem möglichen Verkehr untereinander sind die Lektüre wert, und auch die Bedeutung der Geografie auf das politische Denken. Letzteres kann als Randglosse zu den momentanen Verwerfungen in Osteuropa gelesen werden und einiges Licht auf die Motive der Handelnden werfen.
… die Vernunft wird zurückkehren
Das zentrale Muster des Verlaufs von Geschichte ist konzise beschrieben und hilft, den gegenwärtigen Irrationalismus, die Ferne von Verstand und Vernunft und den diabolischen Wunsch nach gegenseitiger Vernichtung besser zu begreifen.
Die Vernunft, so Hegel, verabschiedet sich dann von der weltgeschichtlichen Bühne, wenn die Leidenschaften auf ihren Auftritt drängen und ihr desaströses Stück aufführen. Erst wenn diese erschöpft zu Boden sinken und die Bühne verlassen, kehrt die Vernunft zurück und leitet eine neue Phase der zivilisatorischen Entwicklung ein. Eine Betrachtung, die in Bezug auf die aktuellen Ereignisse in phänomenaler Weise dazu geeignet ist, die Lage zu erfassen.
Es herrschen die Leidenschaften und die Vernunft hat sich zurückgezogen. Sie zu befeuern ist ein dramatischer Fehler. Ihnen die Bühne zu nehmen ist das Gebot der Stunde. Es gilt, nicht zu verzweifeln, denn die Vernunft wird zurückkehren. Ihr ist der Weg zu bereiten, in dem der Blick auf eine zivilisatorische Perspektive gerichtet wird. Lasst sie schreien, lasst sie toben, die Geschichte hat ihre eigene Philosophie. Und Vernunft bedeutet nicht nur, sich nicht in Leidenschaft zu verausgaben, sondern auch, sich von Illusionen fernzuhalten.
Quellen und Anmerkungen
(1) Der Westfälische Friede (oder auch Westfälische Friedensschluss) war eine Reihe von Friedensverträgen. Sie wurden zwischen dem 15. Mai und dem 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück geschlossen. Diese beendeten den ‘Dreißigjährigen Krieg’ im Heiligen Römischen Reich und den ‘Achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieg’ der Niederlande.
(2) Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) gilt als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus. Hegels Philosophie erhebt den Anspruch, die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen (einschließlich ihrer geschichtlichen Entwicklung) zusammenhängend, systematisch und definitiv zu deuten. Sein philosophisches Werk gliedert sich in “Logik”, “Naturphilosophie” und “Philosophie des Geistes”, die unter anderem auch eine Geschichtsphilosophie umfasst.

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Foto: Joseph Barrientos (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Aktuell: Hegels Philosophie der Geschichte“
Das Ganze lässt sich nun auch trefflich fatalistisch deuten – mit leicht dekadenten Unterton..
;*)
Und ganz sicher gibt es keine “vernünftige” Begründung sich dem Getöse auszusetzen – weiss man doch um den Wahnsinn und dessen Gefahr. Nur, man ist eben nicht unbeteiligter Beobachter und wird spätestens wenn die (Groß-)Kalkulatoren – mein Leben betreffend – agieren (Inflation/failed state/…) zum Blatt im Sturm einer Barbarei die dann nach entsprechender Nützlichkeit die “human recources” um- und aussortiert.
Apropos..
Von daher denkend, sehe ich übrigens auch so manche Panikmache und Übergriffigkeit des Staates – aus Staats-sicht – als eine selbst induzierte Sicherheitsmaßnahme um den eigenen “3-Säulen-Arsch” vor einem fremd instrumentalisierten “Pöbel” abzusichern, als übel aber gerechtfertigt! ;*) ..besser wir als irgendwer fremdes.
Achja..
Diese aufgeführten/angerührten Leidenschaften – “..tobend, ..schreiend..” – sind nur eiskaltes Werkzeug ! nicht zielender Wille. ..wollte ich nur noch mal betonen – sollte aber usus sein.
Der Mensch konnte sich nur im sozialen Mit-, liebevollem Für- und ertragreichen Gegeneinander aus dem Tierreich erheben.
Das dimensionslose, potente „An-sich-Sein“ ermöglicht das wirkliche „Außer-sich-Sein“ im Menschen, und um mittels des absoluten Willensaktes zu bewusstem „Für-sich-Sein“ gelangen zu können, muss sich der Mensch vom natürlichen zum sozialen und psychischen Wesen entwickeln, meinen Hegel und Schelling.
„Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt lasst uns dir zum Guten dienen Deutschland einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen. Und wir zwingen sie vereint, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“, schrieb Johannes R. Becher nach dem bis dahin schrecklichsten aller Kriege, um mitzuhelfen auch den Deutschen wieder den Weg zum Schönen hin zu erhellen. (Johannis R. Becher – Text der Nationalhymne der DDR )
Auch mit dem, ein Fragment gebliebenen Lesebuch „Der Aufstand im Menschen“ wollte der Dichter „die Verzagten und Entmutigten, die Gleichgültigen und Verschreckten“ aufrichten.
Dazu war es natürlich auch notwendig, den Sinn des Mensch-Seins aufzuzeigen: Der Mensch habe die Möglichkeit, indem er selber Gestalt werde, die „Nichts-Unendlichkeit“ mit Gestalt zu erfüllen. Die Menschen würden „Nichts“ sagen – aber sie ahnten es und wüssten es schon teilweise, dass dieses Nichts keine Leere sei, sondern erfüllt von noch „Unbegreifbarem“ und „Unsäglichem“. Begreifbarmachen des „Unbegreifbaren“ und in der „Aussagbarkeit“ des bisher „Unsagbaren“ nehme die „Nichts-Unendlichkeit“ schon Umrisse einer Gestalt an, und seine Gestalt vervollkommnete sich in dem Maße, als sie uns ihren Sinn und ihr Gesetz offenbare und wir auch die „Nichts-Unendlichkeit“ aus ihrem „Ungestalten“ heraus in unsere „Gestalthaftigkeit“ einbeziehen könnten. Denn auch das „Nichts“ habe kein Bewusstsein außer das unsere. Und indem das „Nichts“ in unserem Bewusstsein zum Bewusstsein seiner selbst gelange, hebe es sich als „Nichts“ auf und nehme Gestalt an. (Johannis R. Becher – „Der Aufstand im Menschen“ – Aufbauverlag Berlin und Weimar 1983)
Nichts besteht aus sich selbst heraus, außer das Nichts, das Gewahrsein (die Möglichkeit von Allem), sich seiner selbst nicht gewahr, nur als Möglichkeit immanent, wobei die in Erscheinung tretenden Möglichkeiten vergänglich sind.
Nichts existiert ewig, kann nun doppelsinnig verstanden werden, denn das einzige was ewig existiert ist das Nichts.
Wei Wu Wei – Das offenbare Geheimnis