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Sultan Süleyman, die Demut und der Größenwahn

Die Reflexion über das eigene Handeln und Wirken ist zu einer eher esoterischen Kategorie verkommen, in der nur noch irgendwelche Mystiker oder Misanthropen vorkommen.

Sultan Süleyman der Prächtige (etwa 1494/95 bis 1566), unter dessen Regentschaft das Osmanische Reich im Zenit stand und das vom Maghreb bis zum Iran und von der Donau zum Nil reichte, nahm, wissend, dass es sein Ende sein würde, noch an einem Feldzug gegen Ungarn teil, weil er sich vorgenommen hatte, als Soldat im Kampf zu sterben (1).

In seinem Testament hielt er die Modalitäten seiner Beisetzung fest, die seinem Willen entsprechend angewandt wurden. Demnach mussten seine Ärzte den Sarg tragen, hinter dem Trauerzug sollte das ganze angehäufte Gold zurückbleiben und auf dem Weg, den seine sterblichen Überreste passierten, sollten seine nackten Hände aus dem Sarg heraushängen. Süleyman erläuterte: Auch die besten Ärzte sind vor dem Tod machtlos, alles, was wir erlangten, hinterlassen wir auf dieser Welt und selbst der größte Herrscher steigt hinab ins Grab mit leeren Händen (2).

Wer in den Annalen blättert, wird lesen können, dass die 46-jährige Herrschaft dieses Sultans begleitet wurde von Kriegen und der konsequenten Anwendung von Macht. Imperien entstehen nicht von selbst, und ohne Gewalt bleiben sie auch nicht bestehen. Was dennoch beeindruckt, ist die Weisheit, mit der er sein Leben beschloss. Es mutet an wie eine Geschichte aus einer anderen Welt, was sie tatsächlich auch ist.

Die Dimension von Zweifel und Demut

Denn die Reflexion über das eigene Handeln und Wirken ist zu einer eher esoterischen Kategorie verkommen, in der nur noch irgendwelche Mystiker oder Misanthropen vorkommen. Was zählt, so die Souffleure der aktuellen Epoche, sind harte Fakten und vor allem Tempo. Und Tempo ist die Macht, die vieles in der Lage ist zu unterdrücken.

In nahezu jeder Frage kommt, wenn jemand auf die Idee kommt, nach den Ursachen zu suchen, der alles schlagende Einwand, für diese Überlegung sei jetzt keine Zeit und das hülfe uns jetzt auch nicht weiter. Das, um den aktuellen Bezug herzustellen, ist das wichtigste wie nichtigste Argument, wenn es um eine Bewertung der politischen Maßnahmen gegen Corona wie um die Bewertung des Ukraine-Krieges geht.

Bloß nicht nach den historischen Ursachen suchen, nur nicht die Perspektive wechseln und vor allem nicht darüber reflektieren, wohin die eigenen Wege führen mögen und wo die Grenzen unserer Handlungsfähigkeiten liegen.

Das Tempo, dieser schicke Flitzer versperrt oft den Weg zu einer tieferen Erkenntnis. Und bemüht wird diese Form der Argumentation, deren Selbstreflexion nicht weit reicht, in jeder erdenklichen Situation. Eine Dimension, die der technokratisch geprägte Karrierismus den Akteuren in den modernen Staatswesen geraubt hat, sind Zweifel und Demut. Bei beidem handelt es sich um überaus wertvolle Eigenschaften, die davor bewahren, blind von einer weltlichen Verheerung in die nächste zu stürzen.

Wer eine realistische Vorstellung von den eigenen Wirkungsmöglichkeiten im Rahmen seiner tatsächlichen Lebenserwartung hat, ist vor Größenwahn gefeit. Und wem es gelingt, an den eigenen, präferierten Optionen zu zweifeln, der betrachtet das Ganze auch aus einer anderen Perspektive und lernt dazu.

Die Begrenztheit des Seins

Klopft man beide Aspekte auf die aktuellen Handlungsvorschläge ab, dann wird sehr schnell deutlich, dass weder Demut noch Zweifel im Spiel sind. Es dominieren Notstandszenarien, die keine weitere Reflexion zulassen sollen: In jeder noch so kleinen operativen Frage wird die Keule der Alternativlosigkeit geschwungen und niemand von den vermeintlich Mächtigen käme jemals auf die Idee, die Möglichkeit eigener Fehler einzuräumen und von der eigenen historischen Begrenztheit zu sprechen. Deshalb fasziniert die Geschichte des Sultans Süleymans bis heute.

Quellen und Anmerkungen

(1) Süleyman I. (November 1494, April 1495 oder Mai 1496 bis 1566) war der zehnte Sultan des Osmanischen Reiches. Er regierte von 1520 bis 1566 und gilt als einer der bedeutendsten Herrscher der Osmanen. Unter Süleyman, der zahlreiche Eroberungsfeldzüge führte, erreichte sowohl die geografische Ausdehnung als auch die Macht des Osmanischen Reiches ihren Höhepunkt.

In der Geschichtsschreibung wird Süleyman als der bedeutendste Sultan der Osmanen dargestellt, der sich durch seine Leistungen als Feldherr, Gesetzgeber und Staatsmann hervortat. Außerdem wird an seine Wortkunst erinnert: Süleyman, der mehrere Tagebücher über die von ihm angeführten Feldzüge verfasste, schrieb unter dem Pseudonym “Muhibbi” Gedichte.

Durch seinen Fokus auf das Heer und den Krieg als Mittel zur Machterweiterung (Eroberungen) und dem Machterhalt wurde der Staatshaushalt des Osmanischen Reiches langsam ruiniert. Zudem kosteten unter anderem das “prächtige Leben”, die unproduktive Verwaltung und das Rechtssystem Unsummen. Dazu kam Korruption im Staatsapparat. Durch eine Art Verkauf von Posten, wurde der Inkompetenz Tür und Tor geöffnet. Durch immer höhere Abgaben verarmten relevante Anteile der arbeitenden Landbevölkerung. Nach dem Tod Süleymans ging die Blütezeit der osmanischen Herrschaft zu Ende.

Weiterführende Informationen: Der Niedergang des osmanischen Reiches. Gründe und Entwicklungslinien des Zerfalls im 17. Jahrhundert. Autorin: Grit Wagner (2001). Auf https://www.grin.com/document/106715 (abgerufen am 7.6.2022).

(2) Vilashes: Suleiman’s testament before death. Wise words of the great Sultan Suleiman: quotes, aphorisms and interesting facts. Great ruler of the Ottoman Empire. Auf https://vilashes.ru/en/zaveshchanie-suleimana-pered-smertyu-mudrye-slova-velikogo.html (abgerufen am 7.6.2022).


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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Sultan Süleyman, die Demut und der Größenwahn“

Vieles “mutet (heute) an wie eine Geschichte aus einer anderen Welt”. Früher sagten Einige: “Es gibt nichts Richtiges im Falschen”. Heute scheint sich die reale Wirtschaft mit ihrem 9-fachen an irrationaler Wirtschaft und irrealem Geld in eine von den selbsternannten “Eliten” gemachte Parallelwelt begeben zu haben. In eine falsche Welt, die nur der Gier der Ultrareichen dient. Aber immer noch gilt: Das letzte Hemd hat keine Taschen!

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