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Meinung

60 Schüsse: Die normative Kraft des Faktischen

Im US-Bundesstaat Ohio starb ein 25-Jähriger im Kugelhagel von Polizei. Er hatte sich seiner Festnahme durch Flucht entziehen wollen und war unbewaffnet, als die Täter abdrückten. Bis zu 90 Schüsse sollen abgefeuert worden sein. Die Anwendung des Wortes “Unverhältnismäßigkeit” wäre eine Perversion an sich, denn das, was sich mittlerweile als normale Meldungen in die Nachrichten eingeschlichen hat, dokumentiert nichts anderes als den zivilisatorischen Verfall.

Es wäre wieder einmal ein Leichtes, sich aufgrund eines weiteren Vorfalls polizeilicher Tollwütigkeit in den USA so richtig aufzuregen, zu protestieren und Dampf abzulassen, ohne selbst irgendetwas riskieren zu müssen.

Anlass ist die Tötung eines 25-Jährigen, dessen Hautfarbe nicht erwähnt werden braucht, weil es die Regel ist, der sich einer polizeilichen Kontrolle im Staate Ohio entziehen wollte und der kurz darauf als toter Korpus mit sechzig Schusswunden das hiesige Leben verlassen hatte (1).

Die Anwendung des Wortes Unverhältnismäßigkeit wäre schon eine Perversion an sich, denn das, was sich mittlerweile als normale Meldungen in die Nachrichten unserer hiesigen Welt eingeschlichen hat, dokumentiert nichts anderes als den zivilisatorischen Verfall.

Hasenherzen

Dass die Wächterinnen und Wächter von Moral und Wokeness in diesem Fall so ruhig bleiben, liegt an einem befriedigenden Feindbildersatz, der alles Amerikanische von vornherein exkulpiert und alles Russische in gleicherweise am liebsten vor ein Kriegsgericht stellen würde. So schnell kann es gehen, wenn man als eigener Staat eine Lektion in Sachen existierender Machtverhältnisse erteilt bekommen hat und weiß, dass die eigene Unabhängigkeit ein schöner Trug und die eigene Souveränität ein ferner Traum ist.

An der Tagesordnung wäre eine eindeutige und klare Formulierung, die festhielte, was in eigenem nationalen Interesse ist und was sich nicht deckt mit der einstigen Siegermacht, die immer noch mit nuklearem Geschirr präsent ist. Da steht man dann lieber wie Piefken Duli neben dem greisen demokratischen Kriegsgewinnler vor laufenden Kameras und bekommt vor aller Welt gesagt, dass jetzt Schluss ist mit russischem Gas.

Dann geht man lieber nach Hause und macht den Starken, indem man den Direktiven der transatlantischen Chefs das Wort redet und mit einem vehementen propagandistischen Geschrei denen, die vermeintlich am weitesten weg und daher am ungefährlichsten sind, so richtig den Marsch bläst. Das ist ein uraltes Muster; wer im und für das eigene Haus keine Courage aufweist, haut am Stammtisch so richtig auf die Pauke und schreit aus Leibeskräften die wildesten, blutrünstigsten Parolen in die Runde. Da kommt dann doch wieder nur eine amerikanische Wendung in den Sinn: wir haben es mit Hasenherzen zu tun, die rennen werden, wenn es brenzlig wird.

Die normative Kraft des Faktischen

Derweil ist der tägliche Prozess zu etwas geworden, der den Terminus der Zivilisation durch den der Obszönität ersetzt. Nur zwei Tage nach dem Gemetzel in Ohio waren in hiesigen Breiten kurz vor der üblich gewordenen Zensur Bilder zu sehen, wie Polizisten in der Nähe der Gemeinde Heerenveen im Norden der Niederlande ihre Schusswaffen zogen und feuerten, weil ein Bauer auf einem Traktor die Aufforderung anzuhalten, nicht gehört hatte und weiterfuhr (2).

Ob die Polizisten durch solche Geschichten wie aus den USA ermutigt wurden, bar jeden Verstandes erst einmal loszuballern, bleibt Spekulation. Der Trend jedoch ist deutlich: Ob in London oder Paris, auch in Europa fällt auf, dass zunehmend oft vor der Festnahme der gewaltsame Tod stehen kann. Das ist die Abschaffung von Grundrechten durch die zynische, perverse, obszöne, normative Kraft des Faktischen (3).

Dies sind die Perspektiven, mit denen sich eine Bevölkerung auseinanderzusetzen hat, die allmählich merkt, wie gefährlich das weitere Überleben geworden ist: Geführt von Hasenherzen, die immer auf die anderen zeigen, verlassen von einer Art inneren Moral der herrschenden Institutionen und demoralisiert durch immer mehr lebensnotwendige Geschäftsprozesse, die zunehmend nicht mehr funktionieren.

Quellen und Anmerkungen

(1) ZEIT Online (4.7.2022): Polizei erschießt Unbewaffneten mit 60 Kugeln. Auf https://www.zeit.de/video/2022-07/6309098857112/ohio-polizei-erschiesst-unbewaffneten-mit-60-kugeln (abgerufen am 7.7.2022). ANMERKUNG: Die Anzahl der von den Tätern auf das Opfer abgefeuerten Projektile ist unklar. Bei den gezählten Schussverletzungen handelt es sich um Eintritts- als auch Austrittsverletzungen. Das Opfer wollte weggelaufen und war zum Zeitpunkt, als die Schüsse fielen, unbewaffnet. Ungeachtet davon war das Opfer einem Kugelhagel ausgesetzt. Die Frankfurter Rundschau berichtete zum Beispiel am 6. Juli 2022, dass die Täter mehr als 90 Schüsse abgegeben hätte. Siehe FR: https://www.fr.de/politik/walker-news-usa-polizei-gewalt-schwarzer-mann-akron-ohio-jayland-zr-91645967.html (abgerufen am 7.7.2022).

(2) agrarheute.com (5.7.2022): Niederlande: Polizei schießt bei Bauernprotest gezielt auf Traktor. Auf https://www.agrarheute.com/politik/niederlande-polizei-schiesst-bauernprotest-gezielt-traktor-595396 (abgerufen am 7.7.2022).

(3) Die Normative Kraft des Faktischen bezeichnet eine Vorgehensweise zur Strukturformung in Institutionen.


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „60 Schüsse: Die normative Kraft des Faktischen“

“Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Vor individuellen Freiheiten steht allerdings die körperliche Unversehrtheit und das Leben an sich. Was maßt sich die Exekutive der Staaten an? Gerade wir Deutschen haben schlechte Erfahrungen mit dem Polizeistaat und der staatlichen Willkür gemacht. Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, welches gelebt und gepflegt sein will.

Meine Gedanken beim lesen den Beitrag von Gerhard Mersmann mit dem Titel “60 Schüsse: Die normative Kraft des Faktischen”

Status quo

geraubt sind Früchte und Gebräuche
verlogen lockt perverser Glanz
Kindern schmerzen kranke Bäuche
Afrika im Taumeltanz

die schlanke Frau im Blechbehälter
verkauft ein Kind mit Streichelhaut
Hunger frisst die Tropenwälder
Indios kauen bitt’res Kraut

Fremde kaufen sanfte Schöße
Mädchenfleisch für etwas Geld
stumm erstickt der Weisheit Größe
der Geldmoloch beherrscht die Welt

an Stricken hängen Marionetten
umgarnte Herzen kauft man nur
in Hirnen spuken Bilderketten
erbärmlich stolze Leid-Kultur

der Moloch wird gefüttert
mit Schweiß und Opferblut
mit Gier und Wahn
bedeckt er ihre Augen NF

Gegen Krieg und andere Grausamkeiten

von Angst bedroht
ein Angesicht
heiße Erde
grelles Licht
Zeugen letzter Not

bleibt Zuversicht denn
und Morgenrot
wenn kein Gebot mehr
Gier und Wahn
die Kralle bricht

uraltes Leid
darf noch geschehen
und macht bereit
Lebendige Vergangenheit
muss gehen

Wagen wir die Menschlichkeit NF

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