Die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen oder einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, ist eigenartigerweise im Zeitalter der permanenten Zugriffsmöglichkeiten auf Wissen zunehmend geschwunden.
Mitunter kommt sogar die Vermutung auf, dass ausgerechnet die simultane Verfügbarkeit des Weltwissens dazu beiträgt, dass die Individuen im Bereich ihres eigenen Wissens, ihrer Fertigkeiten und ihrer Fähigkeiten immer mehr zum Appendix der kognitiven Maschinerie verkümmern.
Dieser These wird vor allem von jenen vehement widersprochen, die sich an der Pädagogikfront dafür stark machen, dass immer früher und immer mehr die IT in das Bildungswesen Einzug erhält, das im internationalen Vergleich hoffnungslos ins Hintertreffen geraten sei. Gerade weil es in den hiesigen Schulen noch viel zu analog zugehe.
German Approach
Wer die Geschichte der Pädagogik kennt und diese Argumente hört, kann nur noch traurig den Blick wandern lassen und sich in aller Melancholie die sich immer weiter entwickelnde Erosion von Wissen, seinem klugen Erwerb und den damit zusammenhängenden Methoden sowie die Beherrschung seiner Anwendung vor Augen führen.
Seit der Aufklärung, der Herausbildung eines humanistischen Weltbildes und dem gesellschaftlichen Konnex von Bildung, Leistung und sozialer Emanzipation hat es nicht einmal in ideologisch völlig irregeleiteten Zwischenperioden einen derartig frontalen Angriff auf das soziale Gut von Bildung gegeben wie durch die unreflektierte und nur nach den Prinzipien der Ökonomie betriebenen Verteilung von Spickzetteln für alle Lebenslagen.
Perspektivenwechsel! Ein Phänomen, das zumindest denen, die sich ihrer zerebralen Funktionen noch sicher sind, Anlass zum Nachdenken geben sollte, kann in den Vereinigten Staaten von Amerika derzeit beobachtet werden.
Da werben deutsche Schulen mit dem “German Approach” (nicht zu verwechseln mit einem gleichlaufenden Begriff aus den Rechtswissenschaften!), also der deutschen Herangehensweise an Bildung. Gemeint sind damit feststehende Klassenverbände über Jahre, die vermitteln sollen, dass sich Rollenverteilung, Akzeptanz und Stabilität in einem sozialen Ensemble mit unterschiedlichen Charakteren, verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten herstellen lassen.
Gemeint ist damit ebenso das Lernen durch Fragen, das eigene Erarbeiten von Lösungsansätzen und die Anwendung der Erlernten in völlig anderen Kontexten. Es versteht sich bei dieser Konzeption von selbst, dass bei dem German Approach von einem nahezu exklusiv analogen Konzept gesprochen werden kann.
Eine naheliegende Frage
Kenner der Thematik wittern hier bereits genau das, was bei den Kriterien der PISA-Studien eine große Rolle spielt. Wundern kann man sich nur, dass ausgerechnet das, was den German Approach in der Marketing-Strategie deutscher Schulen im Ausland ausmacht, an den Schulen im eigenen Land keine tragende Rolle spielt und stattdessen die Slogans der Kommunikationsindustrie unkritisch übernommen werden. Je mehr Computer in den Schulen anzutreffen sind, desto fortschrittlicher fühlt man sich, ohne gefragt zu haben, nach welchen Wirkungskriterien denn ein Erfolg von Bildung zu messen sei. Zumindest bei den PISA-Studien (1) sind die Ergebnisse dürftig, obwohl die Grundlagen zur Bemessung des Erfolges aus den Annalen der eigenen Bildungsgeschichte stammen.
Der Clou dieser Geschichte jenseits des Atlantiks ist jedoch ein anderer. Und es entspricht dem erwähnten Ansatz, auf ihn mit einer naheliegenden Frage hinzuweisen! Was meinen Sie, wer seine Kinder für äußerst stattliche Gebühren (man spricht von bis zu 50.000 Dollar pro Schuljahr) auf diese Schulen mit dem German Approach schickt?
Sensation: Es sind die großen Gewinner aus dem Silicon Valley, die Hightech-Tycoons, die ihren Wohlstand mit den Suchmaschinen und Social Media sowie KI erworben haben. Sie scheinen zu wissen, warum sie für ihre Kinder einen analogen Raum suchen, um sie für das raue Leben da draußen im digitalen Orkan zu wappnen.
Quellen und Anmerkungen
(1) Die PISA-Studien der OECD sind internationale Schulleistungsuntersuchungen, die seit dem Jahr 2000 in dreijährlichem Turnus in den meisten Mitgliedstaaten der OECD und einer zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten durchgeführt werden.
Ziel ist es, alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten Fünfzehnjähriger zu messen. Kritiker von PISA meinen, dass eine Verzerrung der Testergebnisse zugunsten angelsächsischer Staaten erfolgt und dadurch ein Druck entsteht, Lehrpläne so anzupassen, dass unmittelbar alltagsrelevante Fertigkeiten ein größeres Gewicht bekämen. Dieser Weg würde beispielsweise die Spezifität des französischen Mathematikunterrichts bedrohen, der großen Wert auf strenge Beweise legt.
In diesem Zusammenhang wird auf die ökonomische Zielsetzung der OECD und auf die Intransparenz und mangelnde demokratische Legitimität der Entscheidungsprozesse bei PISA hingewiesen. Ein ähnlicher Einwand lautet, dass PISA mit seinen Schwerpunkten Mathematik, Muttersprache und Naturwissenschaften die Marginalisierung gesellschaftswissenschaftlicher und musischer Fächer forciere.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.