Der Alltag reicht völlig aus, um sich ein Bild über die Befindlichkeit unserer Zeit machen zu können. Diese nämlich, damit keine Unklarheiten aufkommen, kann als ein großer, alles übertünchender Guss aus Ignoranz beschrieben werden.
Beim Scrollen durch die News stieß ich auf ein Zitat des Schriftstellers Oskar Maria Graf, der am 22. Juli 128 Jahre alt geworden wäre und der bis heute eine literarische Wucht hinterlassen hat, die – wie sollte es anders sein in den erbärmlichen Epochen der Geschichtsvergessenheit – kaum Beachtung findet (1).
Graf wurde in dieser Meldung zitiert mit dem Statement, dass er immer gerne provoziere, manchmal gar aus reiner Lust, um die Witzlosen und Voreingenommenen zu schockieren.
Der inoffizielle Zeitgeist
Ich mache mir immer einen Spaß daraus, die Kommentare zu lesen, weil sie sehr viel verraten über den Zeitgeist und die Haltung vieler, die sich dort tummeln. Dabei ist mir stets klar, dass die Kommentare genauso wenig die gesellschaftliche Realität abbilden wie die offiziellen Verlautbarungen. Aber ein Teil des nicht offiziellen Zeitgeistes entdeckt man doch.
Und so meldete sich gleich ein Zeitgenosse zu Wort, der die Haltung, die Oskar Maria Grafs Zitat verrate, für eine Katastrophe hielt. Man stelle sich nur eine Schulklasse vor, so der Kommentator, die ausschließlich aus solchen Charakteren bestünde. Da wäre kein Unterricht mehr möglich.
Ich hoffe nicht, dass sich hinter diesem Kommentar auch noch ein Lehrer verbirgt, denn das setzte der These von der allgemeinen Verdummung dann doch die Krone auf. Denn die Biografie des Rebellen Oskar Maria Graf weist solche Kleinigkeiten auf wie zwei Weltkriege, eine Revolution, Flucht und Jahrzehnte des Exils.
Es handelt sich um einen Menschen, dem der Glaube an den lieben Gott in einer Backstube mit dem Lederriemen ausgetrieben wurde, der den Krieg wie die Münchner Räterepublik erlebt hat, der es gewagt haben soll, einen schreiend agitierenden Hitler in Schwabing die Ateliertreppe herunterzuwerfen, der flüchten musste durch verschiedene Länder, bis er in New York landete, wo er blieb, obwohl man ihn nach dem Krieg gerne zurückgeholt hätte.
Er blieb bescheiden und malte sich nicht an, als Schlaubolzen denen, die das Elend vor Ort durchgemacht hatten, die Lehre von der reinen Demokratie näher zu bringen. Er lehnte Angebote aus beiden deutschen Staaten ab und blieb in New York, wo er 1967 starb.
Der Klasse der Ignoranten
Das alles, dies sei einmal unterstellt, obwohl es nicht sicher ist, war dem Kommentator nicht bekannt. Und es gilt auch nicht, denjenigen, die die Hintergründe nicht kennen, das Wort zu verbieten. Aber sie hätten, wenn sie wenigstens etwas gelernt hätten, Interesse an der Person wie an seinem Werk entwickeln können und sich zu informieren, um sich dann ein Urteil bilden zu können. Das hat der Kommentator nicht getan und sich insofern als ein Prototyp der belehrenden Ignoranten klassifiziert, die momentan den Raum des öffentlichen Diskurses beherrschen.
Klingen nicht angesichts des geschilderten Falles die Zitate der heute handelnden Politiker in den Ohren, die sich damit brüsten, sich nicht für die Geschichte zu interessieren und das Handeln internationaler Akteure aus dem eigenen, subjektiven Hier und Heute zu erklären? Sie wissen nichts und urteilen über alles. Was für ein Debakel das ist, kann jeden Tag besichtigt werden. Der Oskar mit seinem Willen und seiner Resilienz hat ganz andere Kaliber überstanden als diesen Konsenspädagogen aus dem post-globalen Zeitalter.
Die Politik, die dieser Haltung entspringt, überlebt jedoch niemand, wenn sich nicht der Geist regt, den ein Oskar Maria Graf sein Leben lang pflegte: den des Aufbegehrens, den der Provokation und den der Befreiung.
Quellen und Anmerkungen
(1) Oskar Maria Graf (1894 bis 1967) war ein deutsch-amerikanischer Schriftsteller. Seine Romane “Der Abgrund” (1936) und “Anton Sittinger” (1937) zählen zu den literarischen Analysen des Verhältnisses von Kleinbürgertum und Faschismus. Graf wuchs in der Provinz auf. Das familiäre Umfeld war geprägt durch Gewalt. Graf flüchtete als Jugendlicher und ging nach München, um Schriftsteller zu werden.
Seine Anfänge in der Großstadt waren von Orientierungslosigkeit und existenzieller Not geprägt. Oskar Maria Graf hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Durch Zufall kam er mit Vertretern der anarchistischen Gruppe “Tat” um Erich Mühsam und Gustav Landauer in Kontakt. Graf setzte sich mit deren Ideen auseinander, beteiligte sich an Flugblatt-Aktionen und wurde zum Schriftführer der Gruppe. 1914 erschienen erste Gedichte von Oskar Maria Graf in einer expressionistischen Zeitschrift.
Am 1. Dezember 1914 wurde Graf zum Kriegsdienst eingezogen. 1915 diente er an der Ostfront in Ostpreußen und Litauen. In dieser Zeit erschien erstmals eine Erzählung von ihm in der Zeitschrift “Die Freie Straße”. 1916 sollte Graf wegen Befehlsverweigerung abgeurteilt werden. Er wurde aber in eine Irrenanstalt eingewiesen und nach einem zehntägigem Hungerstreik aus dem Militärdienst entlassen. Nach der Intervention eines gleichnamigen Kriegsmalers begann Graf unter dem Namen Oskar Graf-Berg zu publizieren. 1917 legte er sich den zweiten Vornamen Maria zu. 1917 erschien auch sein erster Gedichtband “Die Revolutionäre”.
Im Januar 1918 wurden Graf, der Pazifist Paul Guttfeld und der Maler Georg Schrimpf in einer Münchener Druckerei verhaftet, als sie den Druck der “Denkschrift des Fürsten Lichnowsky” (My mission to London, 1912-1914) in Auftrag geben wollten. Ebenfalls Anfang 1918 wurde er wegen der Teilnahme am Munitionsarbeiterstreik, ein von Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und des Spartakusbundes initiierter Generalstreik innerhalb der Rüstungsindustrie, inhaftiert. 1919 kam er wegen der Teilnahme an den revolutionären Bewegungen in München erneut ins Gefängnis.
Nach der Entlassung aus der Haft (Rainer Maria Rilke hatte sich für ihn eingesetzt) war Oskar Maria Graf am genossenschaftlichen Arbeitertheater “Die neue Bühne” als Dramaturg tätig. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1927 mit dem autobiografischen Werk “Wir sind Gefangene”.
Nach der Machtergreifung der Nazis veröffentlichte er am 12. Mai 1933 den Artikel “Verbrennt mich!” in der Wiener Arbeiter-Zeitung. Dies geschah in der Annahme, dass seine Werke nicht der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zum Opfer gefallen seien. Tatsächlich standen aber fast alle seine Werke bereits auf der “Schwarzen Liste”. Nach seiner Zwangsausbürgerung im März 1938 waren auch alle seine Bücher in Deutschland verboten. Im gleichen Jahr floh er mit seiner Lebensgefährtin Mirjam Sachs über die Niederlande in die USA. Dort wurde er erst Ende 1957 eingebürgert und kehrte im Juni 1958 erstmals nach Europa zurück. 1966 erschien seine Autobiographie “Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918 bis 1933”.

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Foto und Video: Philip Myrtorp (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Oskar Maria Graf und die belehrenden Ignoranten“
Mühsam und Landauer waren mir natürlich schon seit anno Zopf ein Begriff, aber ihn kannte ich noch nicht… Danke für den Tip…