In der Literaturwissenschaft existiert eine Disziplin mit dem Namen Rezeptionsgeschichte. Sie befasst sich mit der Art und Weise, wie literarische Werke in den verschiedenen gesellschaftlichen Epochen gelesen und gedeutet werden. Kaum eine Disziplin ist so aufschlussreich wie diese.
Diejenigen, um die es jeweils geht, könnten, lebten sie noch, nicht nur ein Lied von dieser bewegten Geschichte singen. Sie könnten auch darauf hinweisen, wie oft die gesellschaftliche Wahrnehmung ihrer Werke von den eigenen Absichten abweichen.
Das ist nicht erstaunlich, denn die Menschen suchen immer, egal in welcher historischen Phase, nach Erklärungen und auch nach Legitimation in der Vergangenheit. Da berufen sich Revolutionäre auf die griechische Klassik, da missbrauchten Faschisten Werke der Emanzipation, um ihre Unterdrückung zu verherrlichen, und da wurden Proteste gegen die Erkaltung der sozialen Welt als Manifeste der Realitätsverweigerung diskreditiert.
Samuel Langhorne Clemens oder Mark Twain
Oder ein anderes, ebenso schwer wiegendes Phänomen, plötzlich verschwanden Werke aus dem Kanon gesellschaftlicher Relevanz, quasi über Nacht, obwohl sie in vorherigen Phasen eine zentrale Rolle gespielt hatten. Namen und Ereignisse zu nennen, würde die Füllung von Folianten garantieren, und ein Werk über die Instrumentalisierung von Literatur zu Herrschaftszwecken existiert hinsichtlich der unzähligen Beispiele bis heute nicht. Nur in Ansätzen.
Samuel Langhorne Clemens (1835 bis 1910), der bekannt wurde unter seinem Pseudonym Mark Twain, ist so einer, mit dem man sich beschäftigen sollte, wenn man die Mechanismen der erwähnten Missbräuche entschlüsseln will (1).

Clemens, der unter anderem eine Ausbildung zum Mississippi-Lotsen gemacht und als solcher einige Jahre gearbeitet hatte, und aus deren Fachsprache er das Pseudonym gewählt hatte (Markierung 2, die Fadentiefe bezeichnend), stand quer zum Konsens seiner Zeit.
Er war scharfzüngig wie humorvoll, lehnte die Ideologie des American Way of Life (2) genauso ab wie die Rassendiskriminierung, betrachtete sein Land aus verschiedenen geografischen wie sozialen Perspektiven und trug so zu einer kritischen Reflexion der Verhältnisse bei. Dass gerade er, der die Rassendiskriminierung kannte und ablehnte, ausgerechnet wegen seiner weltweit bekannten Figuren Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf dem Index der woken Gemeinde steht, dokumentiert Geschichtsvergessenheit und Unkenntnis, sonst nichts.
Das Phänomen, das mit seiner heutigen Rezeptionsgeschichte einhergeht, lässt sich nicht nur an genanntem Beispiel ablesen, sondern aus dem nahezu kompletten Verschwinden aus der aktuellen US-amerikanischen Literatur.
Organisierte Ignoranz
Mark Twain, bis vor einigen Jahrzehnten aus der amerikanischen Literatur nicht wegzudenken, ist komplett verschwunden. Das ist insofern interessant, weil der Mensch Samuel Langhorne Clemens wie kaum ein anderer die Entwicklung des modernen Amerikas verkörperte: Lotse, Unternehmer, Schriftsteller, immer mobil, immer auf der Reise, offen für alles, immer kritisch, skeptisch gegenüber allem, was von oben kommt.
Da liegt die Vermutung nahe, dass die Eigenschaften, die er als Bürger wie als Künstler verkörperte, nicht mehr gefragt, sondern eher als unangenehm und nicht angebracht empfunden werden.
Um die Dimension dieser organisierten Ignoranz, die, wie in den meisten Fällen, auch am Beispiel des Mark Twain in unserem Wahrnehmungsbereich zu verfolgen ist, aufzuzeigen, seien nur wenige Zitate erwähnt, die verdeutlichen, worin Gesellschaften die tatsächliche Individualität, Widerborstigkeit, kritische Reflexion und die Selbstdeutung als Subjekt so furchtbar blamiert sehen:
- “Menschen mit neuen Ideen gelten so lange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat.”
- “Wir schätzen Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen. Vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir.”
- “Mut ist Widerstand gegen Angst, Beherrschung der Angst, nicht Abwesenheit von Angst.”
- “Gib deine Ideale nicht auf. Ohne sie bist du wohl noch, aber du lebst nicht mehr.”
- “Banken leihen dir nur Geld, wenn du beweisen kannst, dass du es nicht brauchst.”
- “Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdrehen kann.”
- “Ich will Informationen, eine Meinung bilde ich mir selbst.”
Die wenigen Schnipsel zeigen, wie aktuell Mark Twain derzeit ist und sie verdeutlicht, worin der Zweck besteht, ihn aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verbannen. Diesseits und jenseits des Atlantiks. Schlussfolgerung? Lesen Sie Mark Twain!
Quellen und Anmerkungen
(1) Der Schriftsteller Samuel Langhorne Clemens (1835 bis 1910) wurde unter dem Autorennamen Mark Twain bekannt vor allem durch seine Abenteuerbücher über Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Der Name Mark Twain geht zurück auf einen Ruf aus der Sprache der Mississippi-Flussschiffer. Er bedeutet “Zwei Faden Wassertiefe“ (Englisch: Mark two). Durch Dialekt wurde der Ausruf verzogen zu “Mark twain” (Markierung zwei) auf dem Faden des Tiefenmessers.
Twain war als Autor ein Vertreter des Literatur-Genres amerikanischer Realismus. Er findet Beachtung insbesondere wegen seiner humoristischen Erzählungen und seiner scharfen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die getragen werden von der Beschreibung des sozialen Verhaltens. In seinen Werken beschreibt Mark Twain auch den Rassismus im Alltag und die Heuchelei und die Verlogenheit der herrschenden Ordnung.
Der Roman “Die Abenteuer des Tom Sawyer” (Originaltitel: The Adventures of Tom Sawyer) wurde 1876 gleichzeitig in Englisch und als deutsche Übersetzung veröffentlicht. Der Roman “Die Abenteuer des Huckleberry Finn” (Origina: Adventures of Huckleberry Finn), erschienen Ende 1884 in Großbritannien und Kanada, im Februar 1885 in den USA und 1890 als deutsche Übersetzung, wurde der erfolgreichste Roman von Mark Twain beziehungsweise Samuel Langhorne Clemens. In den letzten Jahren wurde vermehrt Kritik an der von Twain verwendeten Sprache, die seiner Zeit entspricht, geäußert. Siehe hierzu zum Beispiel ZEIT Online (6.1.2011): Bloß nicht das N-Wort. Auf https://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-01/twain-neue-edition-kommentar (abgerufen am 17.8.2022).
(2) Unter dem American Way of Life (auch kurz American Way) wird ein US-amerikanischer Lebensstil verstanden zu dem ein stark ausgeprägter Individualismus, Freiheitsliebe und das Streben nach irdischem Glück und Wohlstand gehört. Der American Way of Life, der Ideale mit einer pragmatischen Einstellung verbindet, ist geprägt von Optimismus und Aktivität.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.