Die Erfahrung liegt nun schon fünfzehn Jahre zurück und dennoch ist sie mir so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen. Sie hat sich mir quasi ins Gedächtnis gebrannt – als immerwährende Erinnerung daran, was Leben eigentlich meint.
Die meisten Menschen wissen es nicht mehr. Sie sind in den Strudel einer Leistungsgesellschaft geraten, die gnadenlos aussortiert, was nicht ihren Regeln folgt. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, sein spirituelles Wachstum im Auge zu behalten. Der Psychotherapeut Stanislav Grof (1) erklärt es so:
“Alle Erfahrungen geänderter Bewusstseinszustände werden in unserer Gesellschaft ganz automatisch als psychotisch bezeichnet und in den meisten Fällen mit unterdrückender Pharmakotherapie behandelt. Wir haben praktisch die gesamte spirituelle Geschichte der Menschheit pathologisiert. Dabei begannen alle großen Religionen mit visionären Erfahrungen, mit transpersonalen Erfahrungen. Aber inzwischen werden diese Erfahrungen als schizophren oder psychotisch beschrieben.”
Ich möchte von einem Experiment mit Ayahuasca erzählen, einem Pflanzensud aus der Ayahuasca Pflanze (Banisteriopsis caapi) und den Blättern des Chacruna Strauches (Psychotria viridis).
Die Indios im brasilianischen Regenwald nennen die Leute, denen der Tee heilig ist, die “Trinker des kleinen Todes”. Und tatsächlich hatte ich in den ersten Stunden nach der Einnahme das Gefühl, als würde ich sterben, ohne es jemanden sagen zu können: Meine Stimme war verschwunden.
Nach einem fernöstlichen Sprichwort sind Wörter Angelgeräte, die man wegwirft, sobald man einen Fisch gefangen hat. Wer den Gedanken gefangen hat, kann die Wörter wegwerfen. Ich hatte aber noch keinen Fisch gefangen, geschweige denn, dass ich in der Lage gewesen wäre, einen Gedanken zu fassen: Ich befand mich im freien Fall.
Die Strecke abwärts war mit Dämonen gepflastert, deren Fratzen mir aber ziemlich lächerlich vorkamen, was schließlich dazu führte, dass ich es mir im Fluge bequem machte. Ich raste sozusagen mit übereinandergeschlagenen Beinen durch die Hölle.
Einer der Schamanen sagte mir später, dass ich die Skala meiner Ängste hinunter gerauscht wäre. Wenn dem so ist, kann ich nicht meckern, meine Ängste haben offensichtlich keine Macht mehr über mich. Vielleicht war ich auch einfach zu sehr mit kotzen beschäftigt und konnte den Herrschaften nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken.
Einen Herzschlag habe ich jedenfalls nicht erlitten und einen Aufprall gab es auch nicht. Und wenn, dann war das Trampolin, das mich am Ende der Dämonengalerie in ungeahnte Höhen schleuderte, so gnädig gespannt, dass es mir vorkam, als hätte man mich einfach weiter geleitet, anstatt mich abzubremsen oder aufzufangen. An dieser Stelle wurde mir klar, dass ich meinen ersten Fisch gefangen hatte.
Eine Ayahuasca-Zeremonie ist eine Komposition der besonderen Art. Bei der Einnahme des Zaubertranks “El Che” ruft die ganze Gruppe “Pachamama! Tierra Madre!” Der begleitende Schamane greift nur selten ein, aber sobald jemand durchzudrehen beginnt, versucht er die Visionen in Richtung Natur zu lenken, indem er entsprechende Worte in die Runde ruft: “Flores! Pajaros! Sol! El Mar! Viento! Flores! Muchas Flores!”
Es gibt aber auch Sitzungen, wo er das Ganze in eine andere Richtung lenkt, und zwar in eine eher angstvolle. Dann ruft der Ayahusqueiro Wörter wie “Jaguar! Aroa! Vibora! Veneno! Dolor! Que Dolor!” Davon bin ich gottlob verschont worden. Aber es geschieht natürlich in der Absicht, die Menschen mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Manchmal wird auch ein Mückenschwarm auf sie losgelassen, um eine, wenn auch schmerzliche Verbindung zur Natur herzustellen.
So individuell und neu die Erfahrungen auf Ayahusca selbst für die Zeremonienmeister, die Ayahusqueiro, immer wieder ausfallen, für Neueinsteiger sind auf der ersten Sitzung garantiert zwei Dinge reserviert: das große Erbrechen und die Galerie der Ängste. Darauf machen die Schamanen uns verirrte Zivilisierte auch vorher aufmerksam.
Meist fragen sie einen, ob man bereit sei zu sterben. Wer es danach vorzieht, auf die Sitzung zu verzichten, hat die Frage falsch verstanden. Niemand nimmt nach der Begegnung mit Ayahusca das wieder mit nach Hause, was er bei seiner Ankunft dabei hatte. Seine Weltanschauung nicht und auch nicht die Vorstellung von sich selbst. Das war gemeint, als gefragt wurde, ob man bereit sei zu sterben.
Der Tee selbst bietet dem Zögernden noch eine letzte Möglichkeit, sich gegen das Abenteuer zu entscheiden. Er ist nicht nur extrem bitter, sondern sieht auch extrem unappetitlich aus: eine undurchsichtige gelbbraune Flüssigkeit von seltsamer Konsistenz, aus der essigsaure Dämpfe steigen.
Der Grund für die Kotzerei ist damit eigentlich hinreichend beschrieben. Das Elend kann Stunden dauern und ebbt nur langsam ab. Es ist ein widerlicher Zustand, indem man sich schwitzend und mit glasigen Augen durch ein Gestrüpp aus Halluzinationen immer wieder dem Eimer zubeugen muss, während die Tiere des Waldes vor Wonne laut schreien. Wirklich laut. Das Pflanzengebräu aber hält die Qual bewusst bereit. Die Konvulsionen des Magens sind so heftig und ausdauernd, dass der Wahrheitssuchende schlackenfrei und physisch gereinigt ist, wenn die Geschenke gereicht werden, wenn Ayahuasca einen mit der Schöpfung bekannt macht.
Und jetzt wird es schwierig. Für das, was so wunderbar und einfach zu verstehen und zu erleben ist, fehlen uns die Worte. Es gibt sie nicht. Wörter haben Ränder, hat Peter Handke (2) gesagt, und es sind zumeist Trauerränder. “Im Einklang mit dem Universum.” Was sagt uns das, außer, dass wir es nicht mehr hören können, weil der Satz zu einem esoterischen Gemeinplatz verkommen ist.
“Ayahuasca ist eine Übung, man selbst zu sein.” Genau so blöd. Man selbst … das ist man gerade nicht, wenn man aufgeht, eingeht. Ich werde sie nie wieder betreten, die Insel des Verstandes, das steht fest. Dabei, und das steht auch fest, habe ich meinen Verstand mitnichten verloren. Ich weiß jetzt, von welchen drei Eigenschaften der Mensch sich leiten lassen sollte, wenn er den Traum von Frieden und Harmonie nicht aufgegeben hat: Entschlossenheit, Redlichkeit, Einfachheit – mehr braucht es nicht. Mehr macht krank. “Ayahuasca erschließt einem alles.” Ist das eine griffige Beschreibung? Nein.

Wer Ayahuasca erleben will, muss auf jeden Fall den Preis der Veränderung in Kauf nehmen, der Veränderung seines eigenen Wesens. Der Tee passt einen im wahrsten Sinne des Wortes an. Ich bin ein Angepasster geworden, wer hätte das gedacht. Angepasst an die Natur. Ich habe mich in meine eigene Existenz verliebt und wünsche mir, dass mir diese emotionale Intelligenz, die mich befähigt hat, den Bäumen und Tieren, dem Himmel und den Flüssen so selbstverständlich zuzuhören, wie einem Vertreter meiner Spezies noch lange erhalten bleibt.
Die gewonnenen Einsichten sollen eine unüberhörbare Stimme bleiben, die mich gegen alle Dummheiten auf den richtigen Pfad zwingt. Die ungetrübte Erkenntnis, worum es im Leben wirklich geht, wird als kristalline Errungenschaft in meinem Innersten bewahrt.
PS: Erstaunlich, aber wahr, in Brasilien darf Ayahuasca für den religiösen Gebrauch verwendet werden und in Peru fällt die Pflanze noch nicht einmal unter das Betäubungsmittelgesetz. Der Gebrauch ist als nationales Erbe sogar rechtlich geschützt. Und jetzt raten Sie mal, wie das in Deutschland aussieht. Richtig, ohne Erlaubnis ist der Gebrauch strafbar.
Quellen und Anmerkungen
(1) Stanislav Grof (Jahrgang 1931) ist Psychotherapeut und Psychiater. Er gehörte 1978 zu den Mitbegründern (International Transpersonal Association (ITA). Außerdem gilt Grof, der zu den Vertretern der sogenannten Psycholytischen Psychotherapie gezählt wird, in der zur Unterstützung bewusstseinsverändernde Eigenschaften psychedelischer Substanzen genutzt werden, als einer der Begründer der transpersonalen Psychologie. In dieser finden neben humanistischen Aspekten auch religiöse und spirituelle Erfahrungen der Psyche Berücksichtigung.
(2) Peter Handke (Jahrgang 1942) ist Schriftsteller und Übersetzer. Nach seiner Kritik an Sprach- und Bewusstseinsschablonen befasste sich Handke vor allem mit der Entfremdung zwischen Subjekt und Umwelt. Er wurde vielfach ausgezeichnet. 2019 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.

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Fotos und Video: Stefania Buzatu (Pixabay.com; Lizenz), Terpsichore (eigenes Werk; Lizenz: CC BY-SA 3.0, auf https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8098145) und Gavin Hoffman (www.gavinhoffman.com)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „Psychotria viridis: Die Trinker des kleinen Todes“
Inzwischen gibt’s das auch zum Rauchen. Kein Kotzen, Universum zwiebelt in 10 bis 15 Minuten durchs Bewusstsein und 30 min nach Einnahme ist man wieder Fahrtüchtig. Mit den Gedanken kann man sich bequem in den nächsten 10 Tagen während der gelegentlichen magischen Momente auseinandersetzen.