Treffender kann diese Mischung aus westfälischer, polnischer und jiddischer Ironie, wie sie bis heute im Ruhrgebiet anzutreffen ist, nicht auf den Punkt gebracht werden: Da stehen zwei junge Männer auf einer Autobahnbrücke in dieser Region und starren sehnsüchtig auf die rollenden Automobile. Lange sprechen sie nicht, bis einer der beiden den Satz ausspricht: “Lass uns abhauen!”
Es folgt ein langes Schweigen und die beiden starren auf den dichten Verkehr in beide Richtungen. Irgendwann gibt der andere die Antwort: “Weißt du was? Woanders ist’s auch scheiße!”
Es sind jene Geschichten, die so salopp daherkommen und im ersten Moment wie ein nicht sonderlich geistreicher Witz erscheinen, bevor sie sich setzen und ihre Weisheit entblößen. Und wie das so ist, in bestimmten Situationen fallen einem gerade solche Geschichten ein. Gestern zum Beispiel, als ich hörte, wer sich in der britischen Tory-Partei (1) durchgesetzt hat und nächste Ministerpräsidentin Großbritanniens werden würde.
Spekulationsblasen, irres Gehabe, Freak-Show
Da reiht sich eine neue, dem Hasardspiel verfallene Figur (2) in eine Abfolge desaströser Personalentscheidungen ein, die in jüngster Zeit in Europa getroffen wurden und die als ein starkes Symptom für eine systemische Krise gewertet werden müssen.
Nicht nur, dass die Frau bereits bei internationalen Auftritten als Außenministerin ihre Ignoranz in Bezug auf die globale Geografie zur Schau gestellt hat, sondern ihre Vision von der Rückkehr eines dominanten British Empire, in dem die Sonne nie untergeht, allerdings nicht durch kolonialen Raub, sondern durch Kunststückchen auf dem Finanzsektor. Mit fliegendem Teppich weg von der Wertschöpfung, hin zu Spekulationsblasen und irrem Gehabe, wie ihr Vorgänger, jener Upper-Class-Bengel, der aus den Regierungsgeschäften bereits eine studentische Freak-Show gemacht hat.
Und nicht nur Großbritannien glänzt im Licht der Irrationalität, sondern eine kleine Tournee durch die westliche Welt bis hin zum Machtzentrum jenseits des Atlantiks zeigt, in welchem Zustand sich der Teil der Welt befindet, in dem die Regeln für den gesamten Globus aufgestellt werden sollen.
Die alte Schule
Die falscheste aller falschen Regungen wäre allerdings, obwohl wie immer sehr verführerisch, sich auf einer glücklichen Insel zu wähnen, auf der die Welt noch in Ordnung sei. Manche, aber die würden von den beiden Jungs auf der erwähnten Autobahnbrücken nicht ernst genommen werden, würden sich gerne angesichts der erwähnten Misere auf die Schultern klopfen und den Rest der Welt belehren wollen. Doch die sind nicht von Relevanz.
Und, da muss ich mein Unbewusstes ausdrücklich loben, mir fiel tatsächlich noch eine Geschichte ein, die mir ein Freund erzählte. Zu Beginn seiner Karriere als Technik-Experte auf dem Sektor der internationalen Zusammenarbeit, die ihn über Jahrzehnte in viele Länder dieser Erde gebracht hatte, wurde er von seinem neuen Chef nach seinen privaten Angelegenheiten befragt. Nachdem er berichtet und zugegeben hatte, dass es einige Probleme gab, die im Moment wohl nicht lösbar seien, hatte der Mann, natürlich ein Senior der alten Schule, sofort geantwortet:
“Sie sind eingestellt. Ihre Reverenzen sind vorzüglich. Aber sie fahren jetzt nach Hause und bringen ihre Verhältnisse in Ordnung. Vorher geht es nicht auf Reisen!”
Ich denke, beide Geschichten haben in unserer Zeit eine große Aktualität, so trivial es auch klingt. Woanders sind die Probleme nicht geringer, und bevor du dir das anschaust, sieh zu, was du zu Hause ins Lot bringen kannst!
Quellen und Anmerkungen
(1) Im Vereinigten Königreich ist ein Tory ein Unterstützer des Konservatismus, der gegenüber der britischen Monarchie eine positiven Haltung vertritt. Der Begriff Tory kam Ende des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einem Streit um die Thronfolge auf. Im politischen Raum werden heute vor allem die Mitglieder der Konservativen Partei des britischen Parlaments als Tories bezeichnet.
(2) World Socialist Web Site (7.9.2022): Neue britische Premierministerin Liz Truss: Kriegshetzerin à la Thatcher. Verfügbar auf https://www.wsws.org/de/articles/2022/09/06/pers-s06.html (abgerufen am 7.9.2022).

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Foto: Claudio Schwarz (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.