Eines muss man den hiesigen Verhältnissen lassen: Türen und Tore zu Komik und Satire sind weit aufgestoßen. Ob diese Korridore genutzt werden, steht noch dahin. Angefangen hat es bereits vor langer Zeit, aber die Zeiträume, die mit Geduld zu überbrücken sind, bis der nächste abstruse Unsinn das Zusammenspiel von Regierung und Claque-Medien allen vor Augen führt, werden bedenklich kurz.
Insolvenz #Gestammel
War das tatsächlich verifizierbare Zitat der grünen Außenministerin (1) dazu genutzt worden, seine Verbreitung als das Werk russischer Propaganda zu entlarven, so toppte wenige Tage später der Bundeswirtschaftsminister aus der gleichen politischen Formation in einem öffentlichen Auftritt den Grad des Entsetzens mit seinen eigentlich bedauernswerten – Trunkenbolden zugeschriebenen – Ausführungen über Insolvenz (2) und Energie-Sparbeiträge durch unterlassene Produktion: oder was immer er auch meinte.
Es war deutlich, dass er es selbst nicht verstand, also warum sollten es andere dann verstehen?
Und schon kursierte dieser Beitrag im Netz, und, wartet ab, ihr Gutgläubigen und von einer realitätsorientierten Vergangenheit Verwöhnten, es wird nicht lange dauern, dass die Verbreitung der ministeriellen Verwirrung in den Leitmedien als Akt russischer Propaganda verifiziert wird.
Kollektive Amnesie
Nicht genug, dass da einerseits auf das Wahlvolk gepfiffen und andererseits der Niedergang des Unternehmertums als wirtschaftlicher Erfolg gefeiert wird, sodann tönte eine Bundestagspräsidentin im Ton des tiefen Mitgefühls, dass Deutschland dem Verstorbenen Michail Gorbatschow viel zu verdanken habe (3).
Sie steht mit dieser Personifizierung der jüngsten Zeitgeschichte nicht allein, denn überall ist zu lesen, dass ein einzelner Mann Geschichte machen könne. Ohne den im Westen wie ein Popstar Gefeierten, dem letzten Präsidenten der untergegangenen Sowjetunion, wäre vieles aus deutscher Sicht tatsächlich nicht möglich gewesen. Und dieses auch nicht, ohne ihn mit Zusagen über die Nicht-Ost-Erweiterung der NATO nicht gewaltig hinters Licht geführt zu haben. Denn diese Zusage war es, weshalb hunderttausende russische Soldaten die ehemalige DDR verlassen hatten.
Aber, und diese Frage ist nur hinzugefügt für Politik-Interessierte, die sich ein wenig mit Geschichte befassen: Wäre die deutsche Wiedervereinigung ohne die Entspannungspolitik Willy Brandts denkbar gewesen? Dass selbst die SPD-Führung da ruhig in den Bänken sitzen bleibt und einem weiteren Akt der kollektiven Amnesie Beifall spendet, zeigt, was alles geschehen müsste, um den Verstand zurück in die Politik zu bringen.
…. den Schuss nicht gehört
Und auch das, meine Damen und Herren, kann als Beitrag schnell zu russischer Propaganda mutieren. Ist der Boden erst einmal geebnet, sprießen die Gurken, dass es eine Wonne ist. Wer allerdings in diesem Verwirrspiel noch glaubt, mit den sich täglich überbietenden Abstrusitäten ein desolates, irres und massenfeindliches Handeln als Signet vernünftiger Politik zu retten, hat, wie es in Kreisen der Ballistiker so schön heißt, den Schuss nicht gehört. Dann macht es, ohne einen Laut, plötzlich Batsch und da liegt das Ziel mit einem sauberen Blattschuss im Feld und regt sich nicht mehr.
Es bedarf bei der gegenwärtigen geistigen Situation keiner großen Bosheit, um zu dem Schluss zu kommen, dass eigene Aussagen, einmal einem größeren Publikum zugänglich gemacht, dazu dienen könnten, dem Feind zum Vorteil zu gereichen; irgendetwas faul sein muss. Und zwar nicht in Dänemark, sondern hier, mitten in dem Land, in dem wir, wie es ein Wahlslogan aus früheren, aber nicht allzu weit zurückliegenden Tagen beschrieb, gut und gerne leben möchten.
Und wieder grinst die Satire mit ihrer dreckigen Fratze dreist um die Ecke!
Quellen und Anmerkungen
(1) NachDenkSeiten (1.9.2022): Baerbock pfeift auf die Bürger: “Egal, was meine deutschen Wähler denken”. Auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=87511 (abgerufen am 9.9.2022).
(2) RTL News (8.9.2022): “#Gestammel”: Das Netz straft Habeck-Aussagen über Insolvenzen mit Shitstorm ab. Auf https://www.rtl.de/cms/gestammel-das-netz-straft-habeck-aussagen-ueber-insolvenzen-mit-shitstorm-ab-5005618.html (abgerufen am 9.9.2022).
(3) Süddeutsche Zeitung (7.9.2022): Gedenken an Gorbatschow. Auf https://www.sueddeutsche.de/politik/bundestag-michail-gorbatschow-gedenken-baerbel-bas-1.5652704 (abgerufen am 9.9.2022).

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Eduardo Alvarado (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „#Gestammel oder russische Propaganda?“
Gestammel Hin oder Her. Der von uns mit dem Gehalt eines Wirtschaftsministers Bedachte sagte, dass eine Schließung keine Insolvenz sei. Das ist richtig. Das heißt aber: Sie werden in die Insolvenz gehen! “Wenn wir keine Abhilfe schaffen, gibt es die Gefahr, dass bestimmte Firmen – Bäckereien, Handwerksbetriebe, Reinigungsfirmen – ihre Tätigkeit über dieses Jahr einstellen.” Hätte da nicht jede Journalistin nachhaken MÜSSEN? “Wie sieht die Abhilfe aus: Werden sie Geld drucken oder North Stream 2 öffnen.”