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Meinung

Funktionswandel: Comédie humaine oder reale Politik?

Es ist ein Wandel zu beobachten, der letztendlich dazu führt, dass das jetzige System von Politik der Vergangenheit angehören wird.

Jenseits der großen Themen, die täglich in der Politik verhandelt werden, das heißt jenseits von Krieg, Inflation, Sanktionen und allem, was damit zusammenhängt, sollte der Blick vor einem gewaltigen Funktionswandel nicht verschlossen bleiben. Es geht unter anderem darum, wie Politik tatsächlich funktioniert hat und wie sie dabei ist, neuerdings zu funktionieren. Denn es ist ein Wandel zu beobachten, der letztendlich dazu führen wird, dass dieses System von Politik der Vergangenheit angehört.

Versprechungen und Psychogramme

Klassischerweise funktionierte Politik in den sich als westliche Demokratien definierenden Ländern durch ein unterschiedliches Angebot an die unterschiedlichen sozialen Gruppen und Klassen einer Gesellschaft seitens verschiedener Parteien sowie in einem daraus resultierenden Regierungsauftrag und einer späteren Überprüfung, inwieweit das gemachte Versprechen eingelöst wurde.

Diese Wirkungsweise wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte vehement durch das Ausbleiben politischer Programme geschwächt und durch eine Personalisierung von Wahlen ersetzt.

Wer daran zweifelt, sollte nach den Programmen von Parteien suchen, überprüfen, ob diese Programme, sofern vorhanden, Gegenstand der Diskussion zwischen der jeweiligen Partei und ihren potenziellen Wählern sind. Und sich, quasi als Gegenargument, die personalisierte Zuspitzung der letzten Wahlen in den Medien betrachten. Dann wird klar, dass Versprechen im Sinne politischer Programme keine Rolle mehr spielen und stattdessen das vermeintliche Psychogramm von Politikern immer mehr in den Fokus geraten ist.

Politik als virtuelle Veranstaltung

Der Parteienkonkurrenz liegen keine gesellschaftlichen Konzepte zugrunde, sondern unterschiedliche Individuen, die ihrerseits über die Kommunikationsfelder von Twitter und Instagram versuchen, mit punktuellen Forderungen Profil zu gewinnen.

Man höre bei den Nachrichten genau hin: Ein Großteil der Meldungen über das politische Geschehen ist das Zitieren von Forderungen, die diese Politikerin oder dieser Politiker gestellt hat, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung. Von Taten und Fakten der in der Verantwortung stehenden Politik ist im Vergleich kaum die Rede.

Was daraus zu lesen ist, kann mit der bedrückenden Einsicht umschrieben werden, dass auch das Feld der Politik zu einer virtuellen Veranstaltung mutiert ist, in der das eigentliche Maß bei der Beurteilung von Politik keine Rolle mehr spielt.

Nicht das messbare Ergebnis ist zum entscheidenden Kriterium geworden, sondern die Plausibilität und Attraktion einer in die öffentliche Sphäre entlassenen Forderung. Dass diese Veränderung von Politikverständnis derzeit funktioniert, belegen die Zustimmungswerte wie die Wahlen und die Resonanz in den Medien.

Wer da jetzt aufstünde und fragte, was denn eigentlich bei der ganzen Unternehmung herausgekommen ist und ob sich der allgemeine Zustand insgesamt verbessert oder verschlechtert hat, wird prompt des politischen Irrsinns oder der Zugehörigkeit zu dunklen Mächten bezichtigt. Und sollte es aufgrund eines Regieversagens dennoch einmal zu dieser Frage kommen, kann davon ausgegangen werden, dass jede Verschlechterung immer das Ergebnis anderer, nicht beeinflussbarer Kräfte sei und niemals denen in Rechnung zu stellen ist, die in der Verantwortung stehen.

Der Funktionswandel

Der Kulminationspunkt ist bald erreicht, weil sich nun, ganz konkret und für jedermann verfolgbar, noch eine Steigerung der Irrationalität Platz verschafft hat. Sie besteht darin, etwas anzukündigen, was bei näherer Betrachtung eine schlimme Fehlentscheidung wäre. Die Reaktion auf negative Resonanz ist jedoch nicht die Einsicht, einen Fehler gemacht zu haben und diesen zu korrigieren, sondern die Verkündung der Rücknahme als politischen Erfolg zu feiern.

So wie, betrachten Sie es genau, die Revision des Ansinnens einer geplanten Gasumlage (1). Da steht jetzt tatsächlich ein Kabinett, das Applaus erwartet, weil es davon absieht, etwas zu tun, was es selbst geplant hatte. Ist das, so wie wir es erleben, noch reale Politik? So wie es scheint, wartet die Comédie humaine auf einen neuen Band!

Quellen und Anmerkungen

(1) Tagesschau (29.9.2022): Gasumlage gekippt, Gaspreisbremse kommt. Verfügbar auf https://www.tagesschau.de/inland/gaspreisbremse-101.html (abgerufen am 9.10.2022).


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Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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