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Rezension

Die Vierte Gewalt

Manchmal sind die Dinge doch recht einfach, auch wenn sie kompliziert erscheinen.

Manchmal sind die Dinge doch recht einfach, auch wenn sie kompliziert erscheinen. So ist die Notwendigkeit der Existenz des vorliegenden Buches mit der Art und Weise seiner Rezension unterstrichen. Der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer haben zusammen ein Buch geschrieben, das sich mit der Entwicklung des Journalismus in diesem Land auseinandersetzt.

Unter dem Titel “Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, die keine ist” untersuchen sie die unterschiedlichen Mechanismen, die zu dem geführt haben, was vielleicht noch am neutralsten mit dem Begriff des Aufregungsjournalismus beschrieben ist.

Um es vorwegzunehmen: Die meisten Rezensionen aus dem Metier, das zur Betrachtung stand, sind negativ und sie machen genau das, was die beiden Autoren treffsicher in dem Buch beschreiben. Sie reißen Zitate aus dem Zusammenhang und sie polemisieren gegen die Personen. Und sie belegen ausführlich, dass sie intellektuell mit dem Buch wohl überfordert waren.

Cursor-Journalismus und Aufmerksamkeitsökonomie

Die Überforderung kommt allerdings nicht von ungefähr. Die beiden Autoren zwingen die Leserschaft bereits im ersten Kapitel in eine Auseinandersetzung mit dem Öffentlichkeitsbegriff in der bürgerlichen Gesellschaft, ihrem Strukturwandel und ihrer Idealisierung und den daraus abzuleitenden Notwendigkeiten einer tatsächlichen Demokratisierung. Erst dann begeben sie sich in die Niederungen des real existierenden Journalismus.

Richard David Precht und Harald Welzer: Die Vierte Gewalt. (Quelle: Gerhard Mersmann/YouTube)

Vor allem den des politischen Journalismus, der von einer Aufmerksamkeitsökonomie getrieben und mit den damit innewohnenden Marktmechanismen bewaffnet die gründliche Recherche genauso verhindert wie den Perspektivenwechsel. Da bleibt von der Politik nicht mehr viel übrig als die sie verkörpernden Figuren, um die es dann exklusiv geht.

Aus diesem Amalgam entsteht ein sogenannter Cursor-Journalismus, in dem geringfügige Abweichungen vom Mainstream noch geduldet, aber unterschiedliche Positionierungen, dem Humus des in Demokratien notwendigen Diskurses, bis zur Vernichtung von Reputation und Existenz bestraft werden. Zu gut und zu präsent sind die Beispiele, die als Beleg angeführt werden und zu nah sind noch die Ereignisse wie die Immigrationswelle von 2015/16, die Corona-Krise 2020/22 und der Ukraine-Krieg seit 2022 (1).

Meinungsuniforme Presse

Der konstatierte Vertrauensverlust in die Vierte Gewalt ist durch unterschiedliche Untersuchungen und Befragungen belegt und keine originäre These des vorliegenden Buches. Es untersucht lediglich die Ursachen und verweist auf einen desaströsen Verfall des journalistischen Handwerks. Und es räumt auf mit dem immer wieder sich aufdrängenden Eindruck, die Politik, schlimmer noch, die Regierung steuere eine gleichgeschaltete Presse. Ganz im Gegenteil.

Es wird sehr plausibel dargelegt, dass eine Machtverschiebung dafür gesorgt hat, dass die Politiker von einer effektsüchtigen wie meinungsuniformen Presse getrieben werden wie das Wild im Herbst.

Aufgrund der anspruchsvollen Argumentationsführung, die immer wieder theoretische Exkurse erfordert, stellt sich die Frage, wen das Buch erreichen soll? Diejenigen, die der Beweisführung folgen können, werden sich schlicht bestätigt fühlen. Andere wiederum sind vielleicht zu schnell verschreckt und legen das Buch beiseite. Und die Kritisierten werden sich nicht überzeugen lassen.

Pädagogische Intervention

Vielleicht ist es ja auch ein Hinweis darauf, dass man der gesellschaftlichen Wahrheit ohne Mühen nicht nahekommen kann. Das wäre neben den vielen guten Beobachtungen und Argumenten eine wertvolle pädagogische Intervention. Die Lektüre sei unbedingt empfohlen!

Informationen zum Buch

Die Vierte Gewalt

Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, die keine ist

Autoren: Richard David Precht und Harald Welzer

Genre: Medien und Journalismus

Sprache: Deutsch

Seiten: 288

Erscheinung: September 2022

Verlag: S. Fischer

ISBN: 978-3-10-397507-9

Quellen und Anmerkungen

(1) World Migration Report (2015): Verfügbar auf https://worldmigrationreport.iom.int/world-migration-report-2015 (abgerufen am 13.10.2022).


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

Foto und Video: Rajendra Biswal (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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