Als Autor gehört Ferdinand von Schirach zu jener Spezies, die durch ihre berufliche Tätigkeit über Jahrzehnte Einblick in die Lebensumstände der unterschiedlichsten Biografien hatten und daraus Themen wie Perspektiven schöpfen, die an die Substanz der menschlichen Existenz gehen.
Gratwanderung
Ferdinand von Schirach hat das als Rechtsanwalt getan und wird mit seinen Dramen wie “Gott” und “Terror” oder seinen Essays wie “Die Würde des Menschen ist antastbar” oder die “Herzlichkeit der Vernunft” in vielen Sprachen auf dem ganzen Globus gelesen. Die Gratwanderung zwischen rechtsphilosophischer Betrachtung, dem Einblick in die Untiefen menschlichen Handelns und der Einsicht in die Notwendigkeit einer kollektiven Sittlichkeit gelingt ihm mit einfachen, aber treffenden Worten.
Daher ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass ein eher ohne großen Anspruch geschriebenes Buch, das scheinbar vermeintlich aus Notizen des profanen Alltags entstand, dennoch mehr gibt, als der Titel vielleicht suggeriert. Mit seinem Erzählband “Kaffee und Zigaretten” verrät Ferdinand von Schirach nicht nur, was er nie verheimlicht hat, nämlich die notorische atmosphärische Abhängigkeit von Koffein und Nikotin, sondern er gewährt auch einen spannenden und bereichernden Einblick in den Prozess seines Schreibens. Es wird zwar explizit nicht formuliert und ist dennoch mit jedem Eintrag zu beobachten.
Ferdinand von Schirach und der Tod
Denn jede der immer kurzen Erzählungen beginnt mir einem Erinnerungsschnipsel oder einer Alltagsbeobachtung, woraus sich ein Gedankengang entwickelt, der das Große und Existenzielle des menschlichen Daseins in den Blick rückt und dann, wie mit der Klappe des Regisseurs, stehen bleibt. Der Konnex zwischen Alltagshandlung und existenzphilosophischen Fragen ist hergestellt, wie er zu deuten oder gar in dem jeweiligen Fall zu bewerten ist, das überlässt von Schirach der Leserschaft. Gerade das ist wohltuend und in Zeiten ständiger Bevormundung und Belehrung und fühlt sich an wie ein Kuraufenthalt.
Was den Autor dazu befähigt, den spannenden Bogen zwischen universeller Deutung und alltäglicher Unzulänglichkeit herzustellen, mag vielleicht darin begründet liegen, dass er das Ende der menschlichen Existenz, die vorhersehbare wie plötzliche Endlichkeit, nicht tabuisiert, sondern als Regiehinweis immer einsehbar ist. Die Gewissheit des Todes fällt keinem Tabu zum Opfer, sondern sie gehört zur primären Bestandsaufnahme. Das macht diese achtundvierzig nummerierten Geschichten so lesenswert. Brillant komponiert, erzählt, als hätte das Weltgewissen eine Sprache und ohne jegliche pädagogische Ambition.
Machen Sie etwas daraus! Der Autor hat sie autorisiert!
Informationen zum Buch
“Kaffee und Zigaretten”
Autor: Ferdinand Benedikt von Schirach
Genre: Belletristik
Sprache: Deutsch
Seiten: 192
Erscheinung: 2019
Verlag: btb-Verlag
ISBN: 978-3-442-71974-7
Über den Autor
Ferdinand Benedikt von Schirach (Jahrgang 1964) ist Schriftsteller und Jurist. Nach seinem Jurastudium in Bonn und seinem Referendariat in Köln ließ er sich 1994 in Berlin als Rechtsanwalt nieder. Er spezialisierte sich auf das Strafrecht. Schirach vertrat in den sogenannten Mauerschützenprozessen den Agenten Norbert Juretzko und Günter Schabowski, bis 1989 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin. 2008 erstattet Ferdinand von Schirach im Rahmen der Liechtensteiner Steueraffäre Strafanzeige gegen den Bundesnachrichtendienst. 2009 veröffentlichte er seinen ersten Erzählband “Verbrechen” mit Kurzgeschichten, die auf Fällen aus seiner Kanzlei basieren. 2019 erschien “Kaffee und Zigaretten”. Ferdinand von Schirach gibt in 48 Kapiteln Beobachtungen aus seinem Leben wieder: er schildert seine Depressionen, einen Suizidversuch, Begegnungen mit Schriftstellern wie Imre Kertész, Lars Gustafsson und Michael Haneke und er schreibt über seinen Großvater Baldur von Schirach, in Nazi-Deutschland Reichsjugendführer. “Kaffee und Zigaretten” war eines der meistverkauften Bücher 2019.

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Foto und Video: Kipras Štreimikis (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.