Im Reiner Wein-Interview spricht Dr. Bernhard Martin, Mediensoziologe, Elitenforscher, Europajournalist und regelmäßiger Kommentator des öffentlichen Geschehens in Österreich, über grundsätzliche Problematiken, mit denen sich die Gesellschaften in der Vierten Industriellen Revolution konfrontiert sehen. Dazu gehört die Frage, wer die wirkliche Macht im Staat ist.
Rechtspositivistisch gesehen sei ein Staat ein durch Gesetze erklärtes Gebilde, das von Institutionen getragen wird und zur Willensbildung der Herrschenden beiträgt, definiert Martin. Soziologisch betrachtet wäre die Gesellschaft aber dem Staat übergeordnet: die Kultur der Gesellschaft sei die Grundlage, wie der Staat aufgebaut ist. Je nachdem würden demokratische, aristokratische oder auch diktatorische Gemeinschaften entstehen.
Staat, Demokratie und die wirkliche Macht hinter den Kulissen
Reiner Wein, der politische Podcast aus Wien. Gast: Dr. Bernhard Martin
Die sogenannte Digitalisierung, hat die Gesellschaft und ihre Verhältnisse allumfassend verändert. Ein Status quo sei schwer zu finden, sagt Martin. Weiterhin sei eine Transformation im Gange. Die oft propagierte Postmoderne, die davon ausgeht, dass die Moderne vorbei sei, sei keine passende Beschreibung des gegenwärtigen Gesellschaftszustands. Denn die Gesellschaft habe es laut Martin nie geschafft, die Moderne zu erreichen, die geprägt ist von idealen demokratischen Zuständen. Daher sollte sich vielmehr an einer idealen Gesellschaftsform “reorientiert” werden, wie sie in den 1960ern herbeigesehnt wurde.
Problemstellung: Die gesellschaftliche Bewusstlosigkeit
Für den Studentenführer Rudi Dutschke, der von der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geprägt war, war Revolution nur in einem langen Prozess möglich. Es galt zuerst, die gesamtgesellschaftliche Bewusstlosigkeit zu überwinden. Diese herrscht auch heutzutage weiter vor, sagt Bernhard Martin. Sie ist sogar schlimmer geworden: Er bezeichnet die Gesellschaft in seinen Ausführungen als komatös. Weder die Studentenrevolten der 1960er-Jahre noch der Linksterror der 1970er haben einen Beitrag zur Lösung der Bewusstlosigkeit geleistet.
Immer schon ging es politisch um den Schutz des Kapitals und nicht jenen der Demokratie, bei der es sich um eine bloße Fassadendemokratie handelt. Ein Hauptproblem wäre außerdem, dass auch nach den großen Kriegen immer noch dieselben Menschen bzw. Eliten an der Macht seien und die sogenannte Entnazifizierung tatsächlich kaum stattgefunden hat.
Die Macht im Staat liegt beim Militär und bei den Geheimdiensten, sagt Martin, die sowohl für Informationsbeschaffung als auch für Desinformation zuständig sind. Die beginnend mit dem Kalten Krieg geführten Stellvertreterkriege seien bis heute zu erkennen. Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine wäre allerdings nicht mehr ideologisch – zwischen Kapitalismus und Kommunismus, – sondern machtpolitisch geprägt.
Die Chance eines “dritten Wegs” zwischen den konkurrierenden Machtblöcken, bei dem europäische Werte im Mittelpunkt stehen, sei mittlerweile vertan, weil in der Europäischen Union Wirtschaft und Währung im Vordergrund stünden anstatt kulturelle und soziale Aspekte. Nach Beendigung des Ukraine-Konflikts sollten die nötigen Lehren gezogen und der neuerliche Versuch zur Bildung eines politisch und kulturell eigenen Gebildes gestartet werden.
Entschleunigung für einen Neustart
Für Martin ist die Kulturgeschichte wie ein Supertanker, der nachhaltige Strukturen hat. Es werden immer wieder die gleichen Fehler gemacht. Effizienzgewinne sind nur im wirtschaftlichen, aber nicht im sozialen Bereich zu sehen. Familienverbände, Clans und Dynastien prägen nach wie vor die Kultur und die Gesellschaft. Verfallsprozesse führen zu keiner Neuerung. Kapital und Wirtschaft prägen ein Mehr vom Selben. Wirtschaft bestimmt Politisches.
Wie kommt man aus dieser Sackgasse? Martin sieht weder in der KI noch in einer Stadtflucht Chancen, die zu einer positiven Veränderung beitragen können. Er rechnet vielmehr mit einer Art neuem „Vormärz“, geprägt von einem Rückzug ins Private. Man könne bloß drauf hoffen, dass sich die wirtschaftlichen Prozesse entschleunigen und es keinen großen Krieg als Basis für einen Neustart braucht, so sein Resümee. Abschließend plädiert er für die Aufrechterhaltung der analogen Kulturtechniken.
Zur Person
Dr. Bernhard Martin (Jahrgang 1966) ist akademisch ausgebildeter Europa-Journalist in Wien. Als unabhängiger Mediensoziologe analysiert und kommentiert er seit 2010 für das Fachmagazin soziologie heute als „Public Observer“ das öffentliche Geschehen.
Fotos, Audio und Video: Loow Invernissi (Unsplash.com), Sender.fm, Idealism Prevails und Reiner Wein
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Eine Antwort auf „Reiner Wein: Staat, Demokratie und die wirkliche Macht hinter den Kulissen“
Reiner Wein: “Staat, Demokratie und die wirkliche Macht hinter den Kulissen” ist der Titel seinen Beitrag in der “Neue Debatte”
Hier meine Gedanken dafür:
Die weltweit agierende Finanzoligarchie ist letztlich ihr eigener Totengräber.
Ob dieser Kampf im Bewahren der Wirklichkeit oder in deren Beenden mündet, hängt im wesentlichen davon ab, wie weit sich dabei das menschliche Selbstbewusstsein entwickeln kann, so dass es Konfrontation in konstruktives Miteinander wandelt, Nützlichkeit statt Profitmaximierung als Triebkraft erkennt und verantwortungsbewusste Eigentümer zu gewinnbringendem Wettbewerb motiviert.
Das Problem von uns Menschen, den Weg in eine bessere Zukunft zu finden, liegt darin, dass wir zu ständigem handeln und zu ständig veränderndem wirken existenziell gezwungen sind, aber oft lediglich spontan agierend und dabei vermutend, aber in wachsendem Maße auch zielorientiert gestaltend und dennoch nur näherungsweise wissend sind, ob unser handeln der gewollten Richtung entspricht. Gleichgültig ob sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft evolutionär behäbig oder sprunghaft revolutionär vollzieht, sie ist immer dann fortschrittlich wenn sich jeder Einzelne im Rahmen der gegebenen Lebensverhältnisse als selbstbewusst konkrete Persönlichkeit emanzipieren kann und wenn sich eben diese Verhältnisse in Richtung einer Gesellschaft bewegen, in der durch eigenwilliges Wirken der Einzelnen das dauerhafte Bewahren des Mensch-Seins ermöglicht wird.
Wir Menschen können uns entscheiden, ob wir bewahrend oder beendend wirken und entsprechend dieser grundlegenden Orientierung unser Leben sinnvoll oder sinnlos gestalten wollen. Durch unser menschliches Selbstbewusstsein sind wir in der Lage unser eigenes Ich einer umfassenderen Bestimmung zuzuordnen und daraus sinnvolles Handeln für uns selbst herzuleiten.
„Das Gewebe dieser Welt ist aus Zufall und Notwendigkeit gebildet“, stellt Johann Wolfgang von Goethe fest. Und es sei eine von uns Menschen „zu erlernende Kunst“, uns mit Vernunft zwischen beide zu stellen, um sowohl den Zufall, als auch die Notwendigkeit beherrschen zu können. Denn unsere Vernunft wisse, dass das Notwendige der Grund unseres Daseins ist, und dass man mit Vernunft das Zufällige lenken und leiten kann. (Weisheiten deutscher Klassiker Bertelsmann Verlag Orbis Edition 1999)