Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags zur
Justiziabilität des Amtseids der Mitglieder der Bundesregierung
Kritischer Kurzkommentar mit Ergänzung von Richard Albrecht
I. Der hier in aller Kürze vorzustellende Kurzbericht Justiziabilität des Amtseids der Bundesregierungsmitglieder ist eine herkömmliche Literaturübersicht. Sie wurde mit dem Hinweis “Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit” unter dem Aktenzeichen WD 3 – 3000 – 088/18 (Abschluss der Arbeit: 20.03.2018) vom Fachbereich “WD 3: Verfassung und Verwaltung” dem Deutschen Bundestag vorgelegt und als PDF-Datei im Internet (vermutlich zeitnah) veröffentlicht (1).
Die juristische Expertise benötigt anderthalb Druckseiten und besteht aus drei Kapiteln: 1. Fragestellung – 2. Lediglich deklaratorische Wirkung des Eides – 3. Justiziabilität bei Verweigerung der Eidesleistung mit zusammen sieben Abschnitten sowie zehn Fußnoten.
Formal erinnert die Kapiteltriade an einen herkömmlichen schulischen Besinnungsaufsatz zum Thema der in Artikel 64 Grundgesetz gesetzlich vorgeschriebenen Eidesformel von Mitgliedern jeder Bundesregierung:
“Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.”
Der Schwur erinnert an ein mittelalterliches Instrument zur Regelung von herrschaftlichen Beziehungen. Seine Verweltlichung erhält er durch den Zusatz: Auf Wunsch des zu vereidigenden Regierungsmitglieds kann die religiöse Beteuerung entfallen. Die juristische, vermeintlich erkenntnisleitende Fragestellung wird darin gesehen, ob dieser von allen Bundesregierungsmitgliedern bei der Amtsübernahme zu schwörende Eid “justiziabel” – was wörtlich meint: gerichtlich entscheidbar – ist. Was nur der Fall wäre, so die knattertonische Folgerung, wenn der (oben im Wortlaut zitierte) Eid Rechte und insbesondere Pflichten des jeweiligen Regierungsmitglieds begründen würde.
Die Negtivantwort ist abgesichert durch eine Phalanx von juristisch zitablen Sprüchen einiger Oberjuristen mit von Nichtjuristen kaum auffindbaren Quellen der “Herrschende-Meinung-Sätzen” prominenter Verfassungsrechtler.
Deren “absolut herrschender Ansicht” zufolge ist der Eid eine Nullaussage, indem er nur etwas so Vages wie Unbestimmtes bekräftigt und verkündet: Wer den Eid bricht, kann weder strafrechtlich verfolgt noch gerichtlich verurteilt werden; nichts ist bestimmt oder konkret oder inhaltlich. Und was Nutzen und Schaden “des deutschen Volkes” meint, sei juristisch nicht zu fassen, sondern politisch auszutragen. Im Übrigen begründe der Eid “keine Rechtspflichten, weil er keine Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Amtsübertragung” – so die juristendeutsche Formel – enthalte.
Trotz nicht vorgesehener und bisher nicht erfolgter, auch nicht juristisch verfolgter und nach Verfassungslage nicht verfolgbarer “Verweigerung der Eidesleistung” – im Juristenjargon nach herrschender Meinung ihre Nichtjustiziabilität –, empfiehlt der Kurzbericht dem Bundestag für den bisher nicht praktizierten, freilich präventiv vorstellbaren (Einzel-)Fall einer unerhörten Schwurverweigerung als logische, empirische und rationale Konsequenz nicht den Verzicht auf diesen fassadendemokratischen Kropf der Schwurveranstaltung mit bestenfalls fensterrednerisch-deklamatorischem Charakter überhaupt, sondern in direkter Kehrtwende und Entwertung seiner eigenen gutachterlichen Einlassungen im genialischen Übersprung die Einleitung eines “Organstreitverfahrens beim Bundesverfassungsgericht” als oberstem Staatsgerichtshof der Bundesrepublik Deutschland.
II. Bei dieser Gelegenheit ergänzend zur durch professorale Meinungen abgesicherten wissenschaftlichen Dienstexpertise und ihrer falschen Konsequenzen; es gab tatsächlich in der alten Bundesrepublik Deutschland einen Fall von kommunalpolitischer Eidesverweigerung:
Helga Rosenbaum wurde 1975 in den Gemeinderat von Heidelberg gewählt und war damit die einzige Mandatsträgerin des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW). Durch die Aberkennung der Bürgerrechte 1976 wurde sie aus dem Gemeinderat ausgeschlossen. […] Bereits bei der ersten Sitzung des Gemeinderats meldete die RNZ ‘Tumulte bei Verpflichtung im Rathaussaal”. Helga Rosenbaum weigerte sich, eine Verpflichtungserklärung auf die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) abzugeben. Gleichzeitig rief sie in ihrer Eigenschaft als Stadträtin zu Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen bei der Heidelberger Straßen- und Bergbahn (HSB) auf. Zu ihren Aktionen ließ sie sich von ein paar hundert KBW-Anhängern ein imperatives Mandat geben. Mehrmals musste sie wegen Störung von Sitzungen des Gemeinderates ausgeschlossen werden. Wegen verschiedener Delikte liefen gegen sie Strafanträge. Oberbürgermeister Zundel erstattete Anzeige gegen Helga Rosenbaum, da sie ihn als „Freund der amerikanischen Kriegsverbrecher“ und „Symbol der Niedertracht und Ausbeutung“ bezeichnet hatte. Zur Oberbürgermeisterwahl 1976 wurde sie nicht als Kandidatin zugelassen, da sie keinen Hehl daraus machte, nicht auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu stehen, was nach Paragraph 46 der baden-württembergischen Gemeindeordnung allerdings dafür Bedingung war. Mit den Stimmen aller übrigen Gemeinderatsmitglieder wurde sie schließlich 1976 aus dem Gemeinderat ausgeschlossen. Ihre juristischen Schritte dagegen hatten keinen Erfolg. Nachdem ihr Sitz lange verwaist war, wurde er nach und nach von anderen KBW-Mitgliedern der Kandidatenliste eingenommen, bei denen es ähnliche Schwierigkeiten gab. (2)
Der zitierte wikipedianische Ereignisbericht aus der Vogelperspektive veranschaulicht: Eine einzige selbstbewusst-radikale Stadtverordnete mit einem aktiven Anhang konnte so wirken, dass es in Heidelberg nicht mehr um die Wahrung von Recht und Gesetz, sondern nur noch um repressive Ausgrenzung ging; vermutlich im Wissen um das vorangegangene Scheitern in vier Fällen gab es gegen Helga Rosenbaum 1975/76 nämlich keinen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 des Grundgesetzes beim Bundesverfassungsgericht. Sie wurde trotz Direktwahl in den Stadtrat aus diesem par ordre du mufti des (damaligen SPD-) Oberbürgermeisters Reinhold Zundel, einem Volljuristen und ehemaligem Berufsrichter, entfernt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Wissenschaftliche Dienste (WD 3 – 3000 – 088/18): Justiziabilität des Amtseids der Bundesregierungsmitglieder. Verfügbar als PDF auf https://www.bundestag.de/resource/blob/556790/e5376e768c028f5829e29468e6159383/wd-3-088-18-pdf-data.pdf (abgerufen am 5.11.2022).
(2) Wikipedia: Helga Rosenbaum. Verfügbar auf https://de.wikipedia.org/wiki/Helga_Rosenbaum sowie ausführlicher aus politischer Betroffenensicht auf https://www.mao-projekt.de/BRD/BW/KAR/Heidelberg_REP_1979_KBW_Prozess_Helga_Rosenbaum.shtml (beide Links abgerufen am 6.11.2022).

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
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Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.
Eine Antwort auf „Der bundesdeutsche Amtseid als leere Verkündung“
Man stelle sich nur vor, die Missachtung des Amtseides hätte Konsequenzen, dann würde es doch keine Politiker mehr geben. – ENDLICH!