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Sittenroman: Unter der Decke von Dummheit und Ignoranz brodelt es gewaltig

“Das Thema Mensch ist durch. Ich habe mich seiner entledigt. Die daraus resultierende Leere ist zu meiner Geliebten geworden, wir beide tun uns nichts. Alles außerhalb dieser Leere ist gefährlich.”

Die Idee ist da, seit Jahren schon. Aber jetzt beginnt sie zu nerven, sie lechzt nach Gestalt. Noch hält der Damm, noch kann ich meine Untätigkeit, um nicht zu sagen meine Faulheit, als weisen Lebensbeschluss deuten. Dabei frisst sie sich wie ätzende Säure in die Auslegeware meines beschaulichen Friedens, in dem ich mich über das Treiben meiner Spezies schon lange nicht mehr empöre. Das Thema Mensch ist durch. Ich habe mich seiner entledigt. Die daraus resultierende Leere ist zu meiner Geliebten geworden, wir beide tun uns nichts. Alles außerhalb dieser Leere ist gefährlich.

“Wenn es einem gelingt, auch nur eine Stunde ohne Vorurteile gegen die gegenwärtige Menschheit zu sein, dann ist man schon erleichtert”,

hat Peter Handke gesagt. Es ist mehr möglich als eine Stunde, Handke, glaub mir. Die letzten Jahre habe ich in der Abkehr vom menschlichen Wahnsinn soviel seelischen Ballast verloren, dass ich fast wegzufliegen drohte. Daran gehindert hat mich die besagte, im Diffusen schlummernde Idee, welche mit kaum zu überbietender Beharrlichkeit daran erinnerte, dass ich meiner eigentlichen Aufgabe in diesem Leben noch nicht nachgekommen bin, dass da noch etwas zu erledigen sei. Diese Aufgabe bestünde darin, so wurde und wird mir nach wie vor vermittelt, mich an einer längst verschollenen Literaturgattung zu versuchen: dem Sittenroman.

Der Sittenroman, das wissen wir, fängt das Aroma einer Epoche ein, in dem sich seine Protagonisten zu behaupten versuchen. Und unsere Epoche, das steht fest, ist durch und durch versifft, sie ist pornografisch verseucht bis zum Anschlag. In der Politik, in der Wirtschaft, im Sport, der Unterhaltungs- und Freizeitindustrie, ja selbst in der Literatur und der Musik: haltlos, brutal, egoistisch, bar jeder Vernunft und bar jedes Wertekanons – pornografisch eben.

Debattenkultur, Demokratieverständnis? Null. Und an den Schalthebeln der Macht sitzen Menschen, deren Herzen auf die Größe einer vertrockneten Erbse geschrumpft sind und die Empfindungen ausschließlich dann zu zeigen vermögen, wenn man ihnen den kleinen Finger ritzt oder so.

Aber irgendeine Instanz will, dass ich aus der mühsam erkämpften Leere zurück steige in diesen schleimigen, stinkenden Fäkaliensumpf unserer Zeit, um ausgerechnet dort der wahren Liebe zu einem grandiosen Triumph zu verhelfen. Die Idee hat mich bei den Eiern. Was bleibt mir anderes übrig, als sich diesem lustvollen Schmerz zu ergeben? Nach dem Motto des sehr verehrten Jacques Rigaut (1898 bis 1929), der sich in seinem kurzen Lebenswerk fast ausschließlich mit dem Suizid beschäftigt hat:

“Es gibt nichts zu tun, ich pack es an!”

Schriftsteller wie ich, die erkannt haben, dass Worte letztlich Versteller sind, Sichtblenden vor der Wahrheit sozusagen, die eigentlich nur dafür gut sind, den Tischnachbarn um das Salz zu bitten oder den Tankwart um einen Ölwechsel, die dafür plädieren, dass Worte schlicht und sinnvoll eingesetzt werden sollten, anstatt sie in der Schlacht um nie zu erreichende Erkenntnisse sinnlos zu verheizen, solche Schriftsteller spüren die Magie des Lebens in jedem Moment.

Der Franzose Jacques Rigaut war Dichter und Autor des Dada und des Surrealismus. (Foto: Bardadrac, CC BY-SA 4.0)

Der Franzose Jacques Rigaut war Dichter und Autor des Dada und des Surrealismus. Rigaut philosophierte über die Langeweile des Lebens, der er selbst durch einen ausschweifenden Lebensstil und hohen Drogenkonsum begegnete. Und dennoch zelebrierte er den angedeuteten Selbstmord, den er am 6. November 1929 in die Tat umsetzte. Vom Leben gelangweilt schoss sich Rigaut, der immer einen Revolver mit sich führte, eine Kugel ins Herz. Er starb drei Tage später. (Foto: Bardadrac, CC BY-SA 4.0)

Aber zurück zu meiner Aufgabe, dem Sittenroman. ‘Fanny Hill’ von John Cleland war einer. Das Buch erschien 1748/1749 in London und löste einen öffentlichen Aufruhr aus. Die anglikanische Kirche forderte “die weitere Verbreitung dieses abscheulichen Buches zu beenden, das eine offene Beleidigung der Religion und der guten Sitten ist”.

Die gute Fanny wurde verboten und Cleland unter Arrest gestellt. Erst 1966 (!) hob der Oberste Gerichtshof von Massachusetts dieses Verbot wieder auf (1). In England durfte das Buch erst wieder 1970 verkauft werden. Was so ein Sittenoman doch alles in Brand setzen kann! Heute nicht mehr, glaube ich nicht. Oder doch? Mal sehen …

“Das klassische Grundprinzip (…) ist die Offenlegung der jeweiligen gesellschaftlichen Sozialmechanismen anhand der persönlichen intellektuellen und sexuellen Emanzipation eines Individuums.” (siehe: Wikipedia)

Na gut. Erwähnen wir noch einige andere Juwelen dieser Gattung, die im Gedächtnis geblieben sind. Émile Zolas Nana von 1880 wäre zu nennen, Gustave Flauberts Madame Bovary selbstverständlich (1856), Theodor Fontanes Effi Briest (1896) und ich würde sogar Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) dazu zählen und mit einigem guten Willen auch Thomas Manns Buddenbrooks von 1901.

“Doch in der Regel sind die Helden der jeweiligen Romane am Ende Paria, Ausgestoßene der selbst verkrusteten und dekadenten Gesellschaft (…)”,

heißt es bei Wikipedia weiter. Hilft mir das weiter? Nein, das sind nur Etiketten, mit denen Kritiker und Literaturwissenschaftler unschuldige Meisterwerke gerne diskreditieren. Meine Vorstellung von einem Sittenroman ist eine andere. Auf der einen Seite muss der Boden bereitet werden, auf dem die Geschichte steht. Er kann gar nicht ätzend genug dargestellt werden, denn in einem sind wir uns doch einig: Unter der Decke von Dummheit und Ignoranz brodelt es gewaltig.

Deutschland pulsiert nicht, es atmet mit offenem Mund, dem fast nur Fäulnis entströmt. In seinen teilnahmslosen Augen liegt das Einverständnis einer schrecklichen Solidargemeinschaft, der man nicht entrinnt. Es sei denn, man weckt den Krieger in sich und geht mutig und unbeirrt seiner Wege, wie es eine gewisse Sanne Burger in diesem Gedicht beschreibt, das mir in den Weiten des Cyberspace zugeflogen ist und mich bis jetzt atemlos zurücklässt:

I can't stay, mother.
I love you, but I wasn’t born to please you
I wasn't born to make you happy
or give your life meaning.
I wasn't born to rot under your wings
like an unhatched egg.

I can't stay, teacher.
I wasn't born to be put into your boxes
to think along your lines
or to memorize your facts.
I was born to think independently.

I can't stay, my love.
I wasn't born to satisfy your needs
to take care of you
or to hide in your arms.
I wasn't born to make myself smaller
or to be taken for granted.

I can't stay, boss.
I wasn't born to make money for others
I wasn't born to follow orders
or to repeat the same day over and over again
I wasn’t born for boredom.

I can't stay, master.
I wasn't born to follow your ideas
of what truth is or to live according to your dogmas.
I was born to find my own truth
and make my own rules.

I was born to meet life full on
to get lost on Indian trains
to be seduced by dangerous men
to meet different faces, places and cultures
to be out in the jungle all night
to run with wolves
to be swept off my feet
to be taken by storm
to be heartbroken

Devastated
Stunned
Shocked
Lost
Thrown into the deep

I was born to get my hands dirty
to get sand in my mouth
Mud on my clothes
Thorns under my feet
I was born to jump into the abyss.

I was born to meet aliens
to do rituals
to be cracked open in ceremony
to go beyond time and space
to welcome magic
to totally loose myself

I was born to feel everything
to taste everything
The bitter taste of sorrow
The foul taste of deceit
The sweet taste of love

I was born to learn how to handle change gracefully
I was born to know the truth
to learn how to fly
I was born to learn how to speak the language of love
How to unchain my heart
How to shed everything
How to let go of all expectations.

I was born to learn how it feels to lose everything
except what really matters.

I was born to live a life that would strip away everything that wasn't real
that wasn't true
that wasn't me
I am a phoenix.

I am born to spread my wings and fly towards the sun
to burn up and turn to ashes
to fall down to earth and rise up again.

When I am old
I will be proud of my scars
My wrinkles
My memories
My stories
My wisdom
My freedom.

I was born to be free.
And therefore, I can't stay.

Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Dirk C. Fleck wurde unter der Überschrift “Unter der Decke von Dummheit und Ignoranz brodelt es gewaltig” erstmals bei Apolut.net publiziert und von Neue Debatte übernommen. Anmerkungen wurden ergänzt und einzelne Absätze zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.

Quellen und Anmerkungen

(1) Berufung beim Obersten Gerichtshof von Massachusetts (Nr. 368). Verhandelt am 7. und 8. Dezember 1965. Entschieden am 21. März 1966. Original: A Book Named “John Cleland’s Memoirs of a Woman of Pleasure” et al. v. Attorney General of Massachusetts” (PDF). Princeton University. October 1965. Archived from the original (PDF) on 22 June 2017. Retrieved 27 February 2018 – via HeinOnline. Verfügbar im Webarchiv auf https://web.archive.org/web/20170622070343/https://www.princeton.edu/~ereading/MemoirsvMA.pdf (abgerufen am 11.112022).


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

Foto: Deon Black (Unsplash.com) und Bardadrac (eigenes Werk; CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92047648).

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Von Dirk C. Fleck

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

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