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Meinung

Reframing: Bombenpersonal

Wenn die Institutionen versagen, kommt die Straße zurück.

Das Einzige, was vor dem freien Fall in den Wahnsinn noch helfen kann? Reframing! Jene Technik, mit der man Defizite oder Missstände in einen anderen Rahmen einfasst und daraus eine Stärke macht. Beispiel? Die Reaktion eines Teils des politischen Personals auf den Versuch des Ukrainers Wolodymyr Selenskyj, den Krieg gegen Russland zu einem NATO-Bündnisfall zu machen.

Appelle und Versuche des schillernden Präsidenten der an Russlands Grenze liegenden “liberalen Demokratie” waren bis dato unerhört geblieben. Da lag es nahe, die nächste Stufe der Eskalation auszuprobieren und Raketen auf das NATO-Mitgliedsland Polen zu richten. Und kaum waren sie eingeschlagen, wussten nicht nur die ukrainischen Initiatoren, dass, wie sollte es anders sein, der Russe dahintersteckt, sondern auch die deutsche Kriegskamarilla.

Sogar dem Herren zu bissig

Dass die Bild-Zeitung gleich von einem russischen Raketenangriff sprach, wundert nicht. Und dass die Frau mit dem Kurzhaarschnitt aus der freidemokratischen Waffenlobby auf Twitter schon den Bündnisfall ausrief, ebenso wenig. Dass allerdings die amtierende Außenministerin in den emotionalen Kriegszustand einstimmte, ohne zu wissen, was da eigentlich vor sich ging, ist ein Skandal, der den Staat ins Wanken bringt (1). Rücktritt wäre angebracht, was bei der Psychostruktur von Moralisten allerdings ausgeschlossen ist. Bliebe noch die Entlassung – aber lassen wir das! Jede Form der Hoffnung, dass sich in der bestehenden Gemengelage noch irgendwo die Vernunft durchsetzen könnte, scheint unbegründet.

Die zeitgleich auf der indonesischen Insel Bali stattfindende Tagung der G20 bot dem US-Präsidenten die wunderbare Gelegenheit, sehr schnell seinen folgsamen Kindern aus der EU zu sagen, dass momentan die Ausdehnung des lokalen Krieges in der Ukraine auf die NATO-Staaten kein Thema sei.

Quasi zeitgleich mit den Raketeneinschlägen in dem polnischen Grenznest betonte Biden, dass es sich wohl um ein Geschoss ukrainischer Herkunft handelte und nicht um eine Attacke der russischen Streitkräfte. Da ließ sich dann trotz aller Bereitschaft nicht mehr viel machen und die Lakaien mussten feststellen, dass sie zumindest zu diesem Zeitpunkt dem Herrn zu bissig erschienen.

Reframing, letzter Trost und Hoffnungsschimmer

Dass hierzulande weder in der Presse noch aus den Reihen der geschäftsführenden Politik ein Aufschrei zu vernehmen war, weil deutlich wurde, wie schnell durch die teils selbst produzierte, immer und überall honorierte und nie geahndete Kriegsgeilheit der Fall eines heißen Krieges in Sekundenschnelle eintreten kann, zeigt, wie sehr das Gemeinwesen auf den Hund gekommen ist.

Wer angesichts ukrainischer Todeslisten, auf denen deutsche Bundestagsabgeordnete und freie Journalisten ebenso stehen wie Künstlerinnen und Künstler, wer nach der bewussten Provokation des ukrainischen Staates durch den Raketenangriff à la Gleiwitz 1939 (2) noch die Märchen von der liberalen Demokratie erzählt, die über die längst durch Westkonzerne aufgekaufte Kornkammer immer wieder in Umlauf sind, begibt sich bereits in die Gesellschaft von Kriegsverbrechern. Das sei auch jenen Journalisten gesagt, die sich derweil über Orden freuen, die der ukrainische Staat ihnen allen Ernstes ans Revers heftet und die sie mit stolzgeschwellter Brust entgegennehmen (3).

Summa summarum haben die letzten Tage gezeigt, um endlich zum Reframing zu kommen, dass die Bundesrepublik Deutschland über Bombenpersonal verfügt. Das Ergebnis ist, bleiben wir bei der Übung, dass dieses elende Konglomerat von Besserwissern deutscher Zunge in nicht allzu langer Zeit endgültig der Geschichte angehören wird. Vielleicht ist das der letzte Trost, der jetzt noch gespendet werden kann.

In Europa hingegen, und damit ist etwas anderes gemeint als das Ensemble aus dem Sanktions- und Waffen-Casino, da glimmen noch Hoffnungsschimmer von denen, wie sollte es anders sein, in unseren Gefilden nicht berichtet wird.

Als in Frankreich im Oktober die Arbeiter der Raffinerien streikten, das Land lahmlegten und große Demonstrationen organisierten, war neben den Lohnforderungen immer auch der Ruf zu hören, die NATO verlassen zu wollen. Und aus Italien ist zu hören, dass die Arbeiter am Flughafen Pisa und im Hafen von Genua die Verfrachtung von Waffen an die Ukraine verhindern (4). Wenn die Institutionen versagen, kommt die Straße zurück.

Quellen und Anmerkungen

(1) ntv (16.11.2022): Raketeneinschlag in Polen – Baerbock sieht Russland in der Verantwortung. Verfügbar auf https://www.n-tv.de/ticker/Baerbock-sieht-Russland-in-der-Verantwortung-article23722560.html (abgerufen am 17.11.2022).

(2) Der Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939 gehörte zu mehreren von der SS fingierten Aktionen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges mit dem Tarnnamen Unternehmen Tannenberg. Diese Vorfälle dienten als propagandistischer Vorwand für den Überfall auf Polen am 1. September 1939 und damit den Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Außerdem wurden im Zusammenhang mit dem Unternehmen Tannenberg Einsatzgruppen aus Mitgliedern vor allem von SS, Kripo und Polizei aufgestellt, die beim Überfall auf Polen hinter den deutschen Linien Tausende Menschen ermordeten. Die Einsatzgruppen verübten im weiteren Verlauf des Krieges schlimmste Verbrechen (insgesamt bis zu einer Million Menschen wurden ermordet), insbesondere auf dem Balkan und in der UdSSR.

Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 erklärte der Internationale Militärgerichtshof die Waffen-SS wie auch die allgemeine SS und die Totenkopfverbände wegen ihrer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verbrecherischen Organisationen. Polizei und Kriminalpolizei wurden nicht zu verbrecherischen Organisationen erklärt.

(3) Cicero (16.11.2022): “Lieber Ulf”: Orden für Hofberichterstattung. Auf https://www.cicero.de/innenpolitik/ukraine-springer-journalisten-ulf-poschardt-verdienstorden-ronzheimer-ropcke-melnyk (abgerufen am 17.11.2022).

(4) Labournet (29.9.2022): Flughafenbeschäftigte in Pisa weigern sich als ‘humanitäre Hilfe’ getarnte Waffen in die Ukraine zu verladen, Blockaden im Hafen von Genua. Auf https://www.labournet.de/internationales/italien/gewerkschaften-italien/pisa-flughafenbeschaeftigte-weigern-sich-als-humanitaere-hilfe-getarnte-waffen-in-die-ukraine-zu-verladen (abgerufen am 17.11.2022).


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Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Reframing: Bombenpersonal“

Der Beitrag in der “Neuen Debatte” von Gerhard heißt “Mersmann Reframing: Bombenpersonal”:

… “Das Einzige, was vor dem freien Fall in den Wahnsinn noch helfen kann? Reframing! Jene Technik, mit der man Defizite oder Missstände in einen anderen Rahmen einfasst und daraus eine Stärke macht. Beispiel? Die Reaktion eines Teils des politischen Personals auf den Versuch des Ukrainers Wolodymyr Selenskyj, den Krieg gegen Russland zu einem NATO-Bündnisfall zu machen”…

Hier meine Gedanken dazu:

Werden wir Menschen je in der Lage sein, die Ursachen für solche Perversionen nicht nur zu erkennen, sondern sie auch endlich zu beseitigen?

Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden. (So mahnte schon Bertold Brecht)

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