Wenn mich jemand in meinem Berufsleben, worin es unter anderem immer um Personalentscheidungen ging, ärgern wollte, dann musste er oder sie eine Person nur mit der Formulierung “nicht unumstritten” beschreiben. Auf Nachfrage, was denn damit gemeint sei, folgten in der Regel bedeutungsvolle Mienen, unsichere Gesten, aber nie eine verwertbare Information.
In der Regel war bei einer solchen Unterhaltung schnell klar, dass es darum ging, jemanden schlecht zu beleumundeten, ohne konkret Farbe zu bekennen.
Nur sehr selten kamen dann tatsächliche Einschätzungen zutage, zum Beispiel, dass man meinte, fachlich seien da oder dort Defizite zu beobachten, oder der Führungsstil sei autokratisch, es mangele an Motivationsvermögen oder die Person passe nicht in die Kultur der eigenen Organisation. Nein, meistens ging es darum, jemand anderen zu platzieren, den man befürwortete.
Kein Journalismus, sondern eine schlichte Methode
Es gehört zu den Positiva meiner eigenen Berufsbilanz, dass es mir gelang, die Formulierung “nicht unumstritten” zumindest aus meinem Einflussbereich verbannt zu haben. Und, by the way, es hat mich immer belustigt, dass, wenn andernorts das Gespräch auf meine eigene Person kam, das “nicht unumstritten” nicht nur häufig gebraucht wurde, sondern immer wieder sogar zu “umstritten” gesteigert wurde.
Doch bleiben wir beim Gegenstand der Betrachtung. Die Formulierung soll, ohne Gründe zu benennen, einen schlechten Eindruck auf eine Person, ein Unterfangen oder ein Ereignis erzeugen. Es existiert kein Beispiel für den gegenteiligen Fall. Und es steht ebenso fest, dass diejenigen, die mit dieser Formulierung hausieren gehen, eine andere Option im Auge haben, die sie favorisieren. Frei nach dem Motto: Indem ich diskreditiere, favorisiere ich zugleich. Das ist ein nettes Manöver, und als solches durchschaubar.
Dass diese Methode momentan zu einer dominierenden in der politischen Berichterstattung geworden ist, trägt neben anderen Phänomenen zur weiteren Rufschädigung der Zunft bei. Wie weit ist der Journalismus gesunken, so mag man sich fragen, dass er dazu gezwungen ist, mit derartigen Formulierungen die Schlagzeilen zu schmücken? Die Antwort ist einfach: Es handelt sich nicht mehr um Journalismus, sondern um eine Technik, die dazu führen soll, etwas zu diskreditieren und unausgesprochen etwas anderes zu favorisieren. Es ist schlicht eine Methode der Manipulation.
Die Erregungsbäder Kanzler, China und Katar
In diesem Licht sind die vielen Schlagzeilen zu sehen, die die jüngste Reise des Bundeskanzlers nach China immer wieder und bis zum Erbrechen als “umstritten” bezeichneten, ohne auf die Fragestellungen eingehen zu müssen, die entscheidend und wegweisend wären:
Ist es richtig, nach China zu reisen, um über die Beziehungen beider Länder zueinander zu sprechen oder wäre nicht der geheime Wunsch zu präferieren, von vornherein zu sagen, Gespräche mit derartigen Subjekten führten doch zu nichts? Eine Reise durch diese beiden Fragestellungen brächte interessante Erkenntnisse.
Und auch bei der nun pausenlos als “umstritten” bezeichneten Fußballweltmeisterschaft in Katar stellt sich diese Frage: Sollte eine Entscheidung, die Sportfunktionäre wie die Politik vor 12 Jahren getroffen und hingenommen haben, jetzt zu einem Boykott führen oder kann die WM dazu genutzt werden, die Illusion von einer sauberen Welt auf der Folie von arabischer Verkommenheit zu nähren?
Auch diese Übung lieferte Erkenntnisse, die weiterführen könnten, als sich nach einem der gewöhnlichen Erregungsbäder danach zufrieden und erschöpft unter den Tannenbaum sinken zu lassen.
Ist diese Art von Journalismus und politischem Kommentar eigentlich umstritten? Oder ist es alter Senf aus neuen Tuben?

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Stephanie Harlacher (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.