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Die Herrschaft des populistischen Positivismus

“Fresst mehr Scheiße, eine Million Fliegen können sich nicht irren!” Den markanten Ausspruch nutze schon der Kabarettist Dieter Hildebrandt, um den Irrglauben zu geißeln, massenhafter Zuspruch sei ein Zeichen für Qualität.

In Zeiten, als viele Menschen dachten, die Moderne sei geprägt von der Aufklärung, reagierte man noch mit Ironie auf das Aufkommen des populistischen Positivismus.

Was das ist? Eine bis in die Werbeagenturen vorgedrungene Methode, die sich aus der Grundannahme ableitete, dass das als wahr zu gelten habe, was sich quantitativ durchsetzt. Also das, was zahlenmäßig dominiert, kommt der Wahrheit am nächsten.

So unklug ist das nicht, aber es zum philosophischen Prinzip zu erheben, bedeutet einen Frontalangriff auf die Aufklärung bis hin zur Kritischen Theorie (1). Denn dort waren noch so schwergewichtige Kategorien wie Ethik oder die Differenzierung zwischen Schein und Sein im Spiel. Doch der Positivismus und seine populistischen Varianten blieben bei ihrer Aussage. Die ironische Antwort auf dieses Weltverständnis fand ihre Form in dem Zitat: Fresst mehr Scheiße, eine Million Fliegen können sich nicht irren! (2)

Positivismus für Fliegen

Wer glaubt, dass es sich bei der positivistischen Weltauffassung um ein kleines Zwischenspiel auf dem Weg der Erkenntnis handelte, hatte sich allerdings geirrt. Sie eroberte alle Bereiche der Gesellschaft und dominiert das Geschehen bis heute. Jeder Politiker von Bedeutung verweist auf seine positivistischen Wurzeln. Und die Kühnen unter ihnen behaupten sogar, dass der Positivismus mit seinem Credo zum Quantum die philosophische Entsprechung der Staatsform Demokratie sei. Oberflächlich betrachtet mag das sogar stimmen.

Eine Erscheinung hat der Betrachtung eine Dynamik verliehen, mit der niemand gerechnet hat. Es sind die Kommunikationstechniken und ihre Verbreitung. Die Möglichkeit, überall und jederzeit von jedem Ort der Welt über entsprechende Kanäle Nachrichten zu senden, die millionenfache Empfänger finden, hat vieles verändert: Zugunsten des populistischen Positivismus.

Es entstehen Mehrheiten, die auf Informationen basieren, die nicht unbedingt den tatsächlich recherchierbaren Fakten entsprechen müssen. Und die von einem chronisch fehlgeleiteten Publikum eben auch durch die Zahl der Konsumenten den Status des Wahren erhalten. Wenn man so will, hat die Annahme des Positivismus zur unausgesprochenen Staatsdoktrin zu einer Realisierung aller in Bezug auf Propaganda und Manipulation bezogenen Dystopien beigetragen. Wer sich mit einer Fliege gleichsetzen lässt, hat sein kritisches Ego entweder nie entwickelt oder es zugunsten von welchen Vorteilen auch immer abgelegt.

Täuschung bis zum Massenwahn

Bei der Entwicklung einer Strategie gegen den täglich praktizierten Positivismus, der es mittlerweile geschafft hat, jedes ethisch begründetes Maß ad absurdum zu führen und jede politische Schweinerei zu rechtfertigen, muss allerdings auf jede Erscheinung Rücksicht genommen werden.

Es heißt, sich nicht nur die Politikerinnen und Politiker vorzunehmen, die im Rampenlicht stehen, sondern die vielen Täuscher und Märchenerzähler im Netz, die mal als Influencer, mal als vermeintliche Experten oder in welchem Gewand auch immer daher kommen und mit Botschaften hausieren gehen, die bei näherer Betrachtung den Interessen des naiven Publikums zuwiderlaufen.

Sie sind die Vorboten, die mit scheinbar unbedeutenden Aspekten beginnen, aber durch den Transport verheerender Sichtweisen dazu beitragen, dass die unkritische Betrachtung der großen gesellschaftlichen Linien im Massenwahn endet, der auch vor Kriegen nicht halt macht.

Die erste Hürde nehmen

Der Gedanke, die Veränderung beginne bei Strukturen, Institutionen, Parteien oder Personen, greift zu kurz. Die Genese der Veränderung ist das Denken selbst. Der Glaube, dass das, was sich quantitativ durchsetzt, wahr und gut sei, ist die erste Hürde, die sich einer grundlegenden Veränderung in den Weg stellt. Dort muss alles beginnen.

Quellen und Anmerkungen

(1) Die Kritische Theorie ist eine Gesellschaftstheorie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde von Fridrich Hegel, Karl Marx und Sigmund Freud inspiriert. Zu ihren Vertretern zählen der Sozialpsychologe Erich Fromm, der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno, der Politologe und Philosoph Herbert Marcuse und der Sozialphilosoph Max Horkheimer. Sie werden in der Regel unter dem Begriff Frankfurter Schule zusammengefasst.

Gegenstand der Kritischen Theorie ist die ideologiekritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Notwendigkeit ihrer Veränderung soll theoretisch dargelegt werden. Im Kern geht es um die Aufdeckung der bestehenden Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen und das Hinterfragen ihrer Ideologien. Ziel ist eine (vernünftige) Gesellschaft mündiger Menschen.

(2) Die Urheberschaft des Ausspruchs “Leute, fresst Scheiße, denn eine Million Fliegen kann sich nicht irren!” beziehungsweise seiner Variationen ist unbekannt. Häufig wird auf den Kabarettisten Dieter Hildebrandt (1927-2013) verwiesen. Dieser nutzte den markanten Ausspruch, um den Irrglauben zu geißeln, massenhafter Zuspruch sei ein Zeichen für Qualität. Mehr Infos zu Hildebrandt auf: http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/gras1361.html (abgerufen am 12.12.2022).


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Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „Die Herrschaft des populistischen Positivismus“

Spätestens, wenn man über geplante Obsoleszenz nachdenkt, muss man darauf kommen, dass solche Ideen nicht menschlichen Hirnen entspringen können. Als nächstes schaut man dann, mit wem die CEO’s der globalen Unternehmen ihren Arbeitsvertrag abgeschlossen haben. Können „Unternehmen“ lügen? Ist es verwerflich, wenn „Juristische Institutionen“ die Menschen manipulieren? Diese Unternehmen, die die globale Wirtschaft bilden, brauchen Wachstum.
Vor 55 Jahren, als ich auf einer Schulbank in Thüringen saß, hat man mir wichtige Dinge beigebracht. Zum Beispiel, dass das Donezbecken eines der wichtigsten Rohstofflager des RGW ist. Heute arbeitet mein Sohn bei einem großen süddeutschen Maschinenbauer, bei dem gerade Kurzarbeit angeordnet ist, weil die Rohstoffe fehlen. Wäre es nicht naheliegend, sich diese Rohstoffe aus dem Donezbecken zu holen. Steckt vielleicht hinter dem bösen Putin, dem armen Selenski und der Solidarität mit dem Ukrainischen Volk noch etwas anderes?
Wenn ich heute Abend über den Alexanderplatz laufe und die Massen zwischen Galeria Kaufhof und Alexa hin und her strömen sehe, dann habe ich den Eindruck, die Welt ist in Ordnung. Doch sie ist es nicht. Wer sorgt dafür, dass diese Massen bis zur Extase kaufen, kaufen und kaufen? Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als gemütlich zu Hause am Adventskranz zu sitzen und Plätzchen zu knabbern? Es sind die CEO’s der globalen Unternehmen, die sich täglich von ihren Managern die Verkaufszahlen vorlegen lassen. Und dann frage ich mich wieder: Wer gibt diesen CEO’s den Auftrag dazu? Ist es nicht ihr Arbeitgeber?
Vielleicht ist der Vergleich mit den Fliegen gar nicht so schlecht. Stanisław Lem hat vor 60 Jahren in seinem Roman „Der Unbesiegbare“ beschrieben, wie Wolken winziger schwarzer metallischer Fluggebilde, die sich wie Fliegenschwärme verhalten, den Menschen den Verstand rauben.

„Die Herrschaft des populistischen Positivismus“ ist ein Beitrag für die „Neue Debatte“ von Gerhard Mersmann.

Und er stellt am Schluß fest: „Die erste Hürde nehmen – Der Gedanke, die Veränderung beginne bei Strukturen, Institutionen, Parteien oder Personen, greift zu kurz. Die Genese der Veränderung ist das Denken selbst. Der Glaube, dass das, was sich quantitativ durchsetzt, wahr und gut sei, ist die erste Hürde, die sich einer grundlegenden Veränderung in den Weg stellt. Dort muss alles beginnen.“

Und hier meine Überlegung dazu:

Grundledige Veränderungen in der Gesellschaft können immer nur durchgesetzt werden, wenn der Großteil der Bevölkerung sie braucht und aus diesem Grund auch will und wenn die Herrschenden die derzeitigen Verhältnisse auch mit ihren Machtinstrumenten nicht mehr aufrecht erhalten können.

Heute sind weder Hilflosigkeit und Angst der Betroffenen oder Arroganz und Überheblichkeit der Machthabern oder noch Interessen einzelner Staaten oder Wirtschaftsgemeinschaften die tiefgründigen Ursachen für den eskalierenden Verfall des Ökosystems Erde und der unser Mensch-Sein ausmachenden Werte. Sondern unsere Welt wird immer deutlicher von der allgemeinen Krise der kapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt. Akut äußert sich diese dadurch, dass sie in kurzer Zeit aufeinanderfolgend in vielen Varianten erscheint, wie Wirtschafts- und Finanzkrisen, Staatskrisen, Strukturkrisen, humanitäre Krisen, Terrorkrisen, Krieg in der Ukraine und auch die Corona-Krise.

Damit die notwendigen Veränderungen letztendlich von den Unterdrückten erfolgreich durchgesetzt werden können, ist es wichtig, dass es Vorstellungen gibt, wie und warum denn was verbessert werden muss und mit welchen Zielstellungen die Veränderungen erreicht werden können. Damit dafür eine erfolgreiche Strategie und die jeweilige Taktik erarbeitet werden kann, muss zunächst debattiert werden.

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