Es ist Winter, die Nase tropft. Gerade habe ich mir bei Edeka ein Monsterpaket Tempo-Taschentücher gekauft, das aber angesichts meines schniefenden Allgemeinzustands innerhalb weniger Tage verbraucht sein wird.
Beim einräumen in den Badezimmerschrank fiel mir auf, dass das Volumen der Packungen abgenommen hatte, oder irrte ich mich?
Nein, ich irrte mich nicht. Anstatt der gewohnten zehn Taschentücher enthielt jede der blauen Plastik-Packungen nur noch neun der gefalteten weichen Tissues. Pünktlich zur Erkältungszeit hatte die Firma ihr Produkt klammheimlich geschrumpft. Summa summarum bedeutet das, dass Millionen meiner geplagten Mitbürger mal eben eine Preiserhöhung von zehn Prozent in Kauf zu nehmen haben. Das war so etwa 2013.
Warum erzähle ich das? Weil an diesem Beispiel deutlich wird, wie das perfide Gier-System, in dem wir leben, funktioniert. Ich sehe die Herrschaften aus der Tempo-Marketingabteilung direkt vor mir, wie sie bei heruntergelassenen Jalousien beim Brainstorming über neue gewinnbringende Verkaufsstrategien nachdenken, bis einem von ihnen ein Licht aufgeht: NEUN STATT ZEHN!
Wie wäre es denn damit? Bravo Herr Winkler (oder wie das Genie auch immer heißen mag), so machen wir das! Herr Winkler, das wette ich, hat eine steile Karriere vor sich. Ein satter Gewinn von zehn Prozent, unauffällig verpackt, das merkt sich die Chefetage. Den anderen subalternen Würmern in der Runde bleibt nichts anderes übrig, als dem Betrug am Verbraucher artig zu applaudieren. Unser Name ist Beschiss. Na und?
Am Tag nach dieser Entdeckung stand ich bei Rewe an der Kasse. Ich hatte den Einkaufswagen gut gefüllt, alles brav aufs Band gelegt und in zwei großen Papiertüten verstaut. 48 Euro 20. Ich kramte in der Brieftasche nach dem Geld und stellte fest, dass ich nur 35 Euro dabei hatte, der Fünfziger für meinen Einkauf lag zu Hause einsam auf dem Schreibtisch.
Während ich nun dabei war, jene Produkte aus den Tüten zu klauben, die ich für entbehrlich hielt (Rotwein, Garnelen, Mousse au Chocolat etc.) wurde die Schlange hinter mir immer länger. Das Grummeln in meinem Rücken wuchs unüberhörbar an, gleich einem Tsunami, der auf die Küste zurollt.
Plötzlich bemerkte ich, wie die Dame hinter mir dem Kassierer einen Zwanziger reichte, um meine Rechnung zu begleichen. Ich bedankte mich überschwänglich und teilte ihr mit, dass ich den Betrag am nächsten Tag an der Kasse für sie hinterlegen würde.
Sie kann Sie nicht verstehen, bemerkte jemand, sie ist Engländerin. Und so dackelte ich benommen und schwer beladen davon. Mir wurde plötzlich klar, was für ein Gefälle zwischen den Ausbeutern an den Konferenztischen großer Firmen und den Menschen an der Basis besteht. Dort erwächst alle Strategie den Gesetzen des Marktes folgend aus erkalteten Herzen (Strategier), während wir Ausgebeuteten gelegentlich noch Herzenswärme verströmen. You made my day, dear Lady.
Leo Tolstoi (1828 – 1910), dieser wunderbare Schriftsteller und Mensch, hat sich in einem Essay mit dem Titel “Was ist Geld?” folgendermaßen geäußert:
“Die Wissenschaft sagt, dass der Begriff des Geldes durchaus nichts Ungerechtes oder Schädliches in sich schließe, dass das Geld die natürliche Grundlage unseres sozialen Lebens sei, dessen wir zur Erleichterung des Umtausches, zur Ermöglichung des Sparens sowie als Wertmesser und Zahlungsmesser unumgänglich benötigen.”
Und er fährt fort:
“Die augenscheinliche Tatsache, dass ich, wenn ich drei überflüssige Rubel in der Tasche habe, in jeder zivilisierten Stadt nur zu pfeifen brauche, um sogleich ein ganzes Hundert von Leuten zur Verfügung zu haben, die für jene drei Rubel auf mein Geheiß die allerschwierigsten, widerlichsten und erniedrigendsten Arbeiten verrichten – diese Tatsache hat ihre Ursache nicht im Gelde, sondern in den höchstverwickelten Bedingungen der wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft.”
Der wahre Weg zur Erkenntnis, hat Kafka gesagt, geht nicht über ein Seil, das in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, uns stolpern zu lassen, als wirklich begangen zu werden. Und stolpern lassen sie uns allemal und reichlich. Hatschi!
Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Dirk C. Fleck wurde unter der Überschrift “Ohne Moos nichts los” erstmals bei Apolut.net publiziert und in aktualisierter Fassung von Neue Debatte übernommen. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Vasily Koloda (Unsplash.com)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „Ohne Moos nichts los“
Es sind nicht unbedingt die höchstverwickelten Bedingungen der wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft. Es ist die Gesellschaft, der Mensch an sich, der sich der selbst auferlegten höchstverwickelten Bedingungen und des Geldes unterwirft, weil er glaubt, sonst übervorteilt zu werden, – ganz gleich wie hoch das Seil gespannt ist.