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Handlungseffekte

Der Al-Capone-Effekt (auch Capone Effect) bezieht sich auf eine besondere Handlungsform vorwiegend staatlicher Machtorgane und Verfolgerbehörden: Seine Wirksamkeit beruht auf strategischen Handlungen gegen Personen, Netzwerke und Institutionen in weniger zentralen Handlungsfeldern.

Ein vorweihnachtliches Brevier zur Soziologie als unterhaltsamer Handlungswissenschaft. (1)

Unterhalb der großsoziologischen Ebene bekannter Leiteffekte wie Thomas-Theorem, Matthäus-Effekt und Zweistufen-Kommunikationsmodell von William Thomas, Robert Merton und Paul Lazarsfeld geht es hier in aller nötigen und möglichen Kürze um einige alltagspraktisch wichtige handlungsbestimmende kleine soziologische Wirkungszusammenhänge. Sie werden bewusst in Form einprägsamer Stichworte gefasst.

Al-Capone-Effekt

Der Mobster und Boss des Chicago Outfit Alphonse Gabriel 'Al' Capone etwa um 1935. (Foto: Federal Bureau of Investigation, gemeinfrei)
Alphonse Gabriel ‘Al’ Capone (1899 bis 1947), Mobster und Boss des Chicago Outfit. (Foto: Federal Bureau of Investigation, gemeinfrei)

Der Al-Capone-Effekt (auch Capone Effect) bezieht sich auf eine besondere Handlungsform vorwiegend staatlicher Machtorgane und Verfolgerbehörden: Seine Wirksamkeit beruht auf strategischen Handlungen gegen Personen, Netzwerke und Institutionen in weniger zentralen Handlungsfeldern.

Das Handlungsmuster wurde Ende der 1920er-Jahre von Verfolgerinstanzen der USA gegen den bekannten Berufsverbrecher Al Capone (1899 bis 1947), dessen territoriales Zentrum Chicago und dessen so illegale wie profitable Geschäftsbereiche Glücksspiel, Prostitution, Schutzgelderpressung (racketeering; protection racket), und während der offiziellen Alkoholverbotsjahre (Prohibition 1920 bis 1933) Alkoholschmuggel, -handel und -ausschank sowie Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Betrug waren.

Capone, der auch als für (Auftrags-) Morde und Bandenkriege verantwortlich galt, gab sich öffentlich als seriöser Geschäftsmann und konnte jahrelang trotz kurzfristiger Festnahmen nicht belangt werden.

Dies wurde erst Mitte 1931 durch Anklage wegen zahlreicher Steuer- und Betrugsdelikte möglich: Ende Oktober 1931 wurde Capone rechtskräftig zu elf Jahren Gefängnis verurteilt und festgesetzt. Er wurde Anfang 1939 vorzeitig aus Krankheitsgründen entlassen. Trotz zahlreicher Aktivitäten aus der Haft heraus schwand in den 1930er-Jahren Capones Einfluss in der Unterwelt bis zum Zerfall seines Imperiums.

Der Al-Capone-Effekt wurde Anfang 2017 auch in der deutschen Innenpolitik eingefordert:

“Die Union hat ihre Versäumnisvorwürfe gegen das Land Nordrhein-Westfalen im Fall des Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri erneuert (…) Der als sogenannter islamistischer Gefährder eingestufte Tunesier Amri hatte sich fast eineinhalb Jahre in Deutschland aufgehalten. Er nutzte mehr als ein Dutzend gefälschte Identitäten, war in der Drogenszene aktiv, wurde observiert und war sogar kurz in Abschiebehaft. Am 19. Dezember steuerte er einen Lkw in einen Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Er tötete zwölf Menschen und verletzte Dutzende. Der abgelehnte Asylbewerber Amri war in NRW gemeldet, die dortigen Behörden waren auch für seine Abschiebung zuständig (…) Der Obmann der Unionsfraktion im Innenausschuss, Armin Schuster (CDU), sah Versäumnisse: “Wo wir weit auseinanderliegen, ist die Einschätzung von Innenminister Jäger aus Nordrhein-Westfalen, dass es im Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts keine Chance gegeben hätte, [Amri] in Haft zu nehmen.” … Zudem habe der “Al-Capone-Effekt” gefehlt. Wenn Amri schon nicht wegen staatsgefährdender Straftaten hätte belangt werden können, dann doch wegen seiner kriminellen Taten, etwa in einem Sammelverfahren.” – dpa 13.2.2017

Bumerangeffekt

Boris Becker 1994 in Cincinnati. (Foto: James Phelps, CC BY 2.0)
Boris “Bum-Bum” Becker warb 1999 mit dem Spruch “Ich bin drin.” für AOL, damals der weltweit größte Internetdienstanbieter. (Foto: James Phelps, CC BY 2.0)

Der Bumerangeffekt erinnert sprachlich an das zum Wurfort zurückkommende Wurfgerät Bumerang. Entsprechend drückt der Bumerangeffekt in handlungswissenschaftlichen Feldern und Bereichen wie Wirtschaft und Werbung, Sozialpsychologie und Politik unerwünschte und typischerweise auch so ungeplante wie unbedachte Wirksamkeiten von eingeleiteten Maßnahmen aus, etwa die unerwartete Rückkehr exportierten Kapitals als Kapitalimport (und importierte Preissteigerung).

Sozialpsychologisch geht es um das Phänomen der Reaktanz: Was verkaufsfördernd wirken sollte, erreichte das Gegenteil wie etwa Boris (“Bum-Bum”) Becker als Identifikationsfigur mit dem AOL-Reklamespruch “Ich bin drin”. Wählerpolitisch gab es einen Bumerangeffekt bei einer Bürgermeisterwahl in Wels, der mit etwa 63.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Oberösterreichs: Eine dort aktive Antifa, die dessen Wahl verhindern wollte, trug mit dazu bei, dass der Kandidat der FPÖ, der im ersten Wahlgang schon knapp 48 Prozent der Stimmen erhielt, bei der Stichwahl am 11.10.2015 mit 63 Prozent gegenüber dem SPÖ-Kandidaten weit vorne lag.

Alltagssprachlich veranschaulicht den Bumerangeffekt die Wendung “War wohl’n Schuss inn’ Ofen”. Im in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auch in (West) Europa verbreiteten Roten Buch (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) bemüht der Autor als Ausdruck seiner antiimperialistischen Sicht ein chinesisches Sprichwort: Der Stein, den sie erhoben haben, fällt auf ihre eigenen Füße.

Wissenschaftssystematisch beruht der Bumerangeffekt auf Robert K. Mertons Hinweis zu unerwarteten Folgen sozialen Handelns (The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action, 1936) und auf der Theorie der kognitiven Dissonanz von Leon Festinger (A Theory of Cognitive Dissonance, 1957; Dt. Ausgabe, Hg. Martin Irle, 2012). Als Sonderfall des Bumerangeffekts gilt der vornehmlich in der entwickelten Medienwelt wirkende Streisand-Effekt.

Jesaja-Effekt

Eine Darstellung von Jesus. (Foto: Arturo Rey, Unsplash.com)
Eine Darstellung von Jesus. (Foto: Arturo Rey, Unsplash.com)

Nach Predigten und Heilungserfolgen kehrte Jesus mit seinen Jüngern in seinen Heimatort Nazareth zurück:

“Am Sabbat ging er in die Synagoge, um dort zu lehren. Die Leute, die ihm zuhörten, staunten über ihn und fragten: »Wie ist so etwas nur möglich? Woher hat er diese Weisheit? Wer gibt ihm die Macht, solche Wunder zu tun? Er ist doch der Zimmermann, Marias Sohn. Wir kennen seine Brüder Jakobus, Joses, Judas und Simon. Und auch seine Schwestern leben alle unter uns.« Sie ärgerten sich über ihn. Da sagte Jesus: ‘Nirgendwo gilt ein Prophet weniger als in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner eigenen Familie.’ So konnte er dort keine Wunder tun. Nur einigen Kranken legte er die Hände auf, und sie wurden gesund. Er wunderte sich über den Unglauben der Leute. Darum ging er in andere Dörfer und sprach dort überall zu den Menschen.”

Das ist der im Markus-Evangelium mitgeteilte Grundtenor des hier interessierenden herkömmlichen Jesaja-Effekts als besonderem Handlungstheorem mittlerer Reichweite: Gerade im eigenen Land, in der Heimat, bei Familie und Verwandten als Nahwelt gilt der Prophet (als Prediger und Heilkundiger) bestenfalls wenig, typischerweise nichts: nullus propheta in patria.

Entsprechend lauten die bekannten Redewendungen: Der Prophet gilt nichts im eigenen Land – a prophet has no honor in his own country; nadie es profeta en su tierra; nul n’est prophète en son pays. Über sozio-regionale Herkunftsaspekte wird der Prophet als vertraut erinnert mit der Folge, dass er sowohl als Person nicht nur relativiert, infrage gestellt und für unglaubwürdig gilt, sondern seine Äußerungen und Handlungen auch für unglaubhaft erachtet werden.

Mephisto-Effekt

Das Gemälde "Faust im Studierzimmer" von Friedrich Georg Kersting entstand 1829. (Foto: Gemeinfrei)
Das Gemälde “Faust im Studierzimmer” von Friedrich Georg Kersting entstand 1829. (Foto: Gemeinfrei)

Evangelistenfeste kennen den Matthäus-Effekt mit seinem Bezug auf verschiedene Wirksamkeitsformen von Handlungen. Er gilt seit Jahrzehnten in der akademischen und Fachsoziologie als ein handlungsbezogenes Grundgesetz – ganz im Gegensatz zum nicht weniger wichtigen, aber bis heute weder fachlich noch akademisch bekannten und schon gar nicht anerkannten goethe-faust’schen Mephisto-Effekt mit seiner gereimten positiv-paradoxen Handlungswirksamkeit.

In der ersten Studierzimmerszene kommt hinter dem Ofen ein als “fahrender Scholastikus” verkleideter Mephistopheles hervor und beantwortet Fausts Frage “Wer bist du denn?” zunächst kurz mit dem “Rätselwort”:

“Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft” und führt dann aus: “Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / ist wert, dass es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz, das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.”

Der Mephisto-Effekt mit “seiner “Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft”, lag aus welchen Gründen auch immer jenseits von (nicht nur Mertons) handlungssoziologischem Erkenntnisinteresse mit seiner Leitfrage nach unerkannten (nicht jedoch unerkennbaren) Handlungsfolgen. Dies ändert nichts daran, dass der Mephisto-Effekt als relevantes handlungssoziologisches Theorem mittlerer Reichweite anzusehen ist.

Rebecca-Effekt

Kinoplakat für den US-amerikanischen Kinostart von Alfred Hitchcocks Film Rebecca 1940. (Foto: United Artists Corporation 1939; Public Domain)
Plakat für den US-amerikanischen Kinostart von Alfred Hitchcocks Film “Rebecca” 1940. (Foto: United Artists Corporation 1939; Public Domain)

Verallgemeinernd meint der Rebecca-Effekt Verklärung/en von Vergangenheit/en im Allgemeinen und emotional positive Besetzung von Erinnerung/en an frühere Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse im Besonderen.

Begrifflich folgt der Rebecca-Effekt Daphne du Mauriers Romanbestseller Rebecca (1938; Hitchcock-Verfilmung USA 1940). Dort geht es um eine junge Frau, die spontan von einem aristokratisch-autoritären Witwer und Eigentümer eines Schlosses in Cornwall geheiratet wurde. Sie wird so offen-direkt wie verdeckt-indirekt beständig mit dessen verstorbener und in der Erinnerung des relevanten sozialen Umfelds verklärend überhöhter Frau – Rebecca – verglichen. Daraus wird ein die neue Beziehung infrage stellender Mythos.

Die verklärende Erhöhung eines früheren Bezugsgruppenmitgliedes zu Lasten von Nachfolgern und Nachfolgerinnen beschränkt nicht nur Anerkennungs- und Handlungschancen dieser. Sondern führt auch, so Alwin Gouldner, der den Rebecca-Effekt in soziologische Debatten einbrachte, bei Einsetzung neuer Betriebsleitungen von außen zu zusätzlicher Bürokratisierung in Industrieunternehmen. Der Rebecca-Effekt (auch Rebecca-Syndrom oder Rebecca-Mythos) ist kein zentraler soziologischer Handlungseffekt. Er liegt im Bereich mittlerer Reichweite.

Bewusst in Form einprägsamer Stichworte wurden in aller möglichen und nötigen Kürze einige alltagspraktisch wichtige handlungsbestimmende kleine soziologische Wirkungszusammenhänge vorgestellt. Sie bewegen sich unterhalb bekannter großsoziologischer Leiteffekte wie Zweistufen-Kommunikationsmodell, Matthäus-Effekt und Thomas-Theorem von Paul Lazarsfeld, Robert Merton und William Thomas.

Quellen und Anmerkungen

(1) Hier benützt in der weltlichen Bedeutung als Anthologie oder Sammlung wichtiger thematischer Aussagen (Wolfgang Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen; dtv 1995: 169-170). Quelle mit Zitaten, Nachweisen und Belegen 2016/17 im Einzelnen auf https://soziologieheutebasiswissen.wordpress.com//?s=effekt (Link abgerufen am 29.11.2022).

Redaktioneller Hinweis: Das Essay erschien unter der Überschrift “Vorweihnachtliches Brevier zur Soziologie als unterhaltsamer Handlungswissenschaft” in soziologie heute (Ausgabe 12/2022; S. 34-36). Es wurde Neue Debatte vom Autor zur Verfügung gestellt. Fotos und einzelne Absätze wurden eingefügt.


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

Foto: United States Bureau of Prisons (gemeinfrei), Federal Bureau of Investigation (gemeinfrei), James Phelps (USA – Boris Becker 1994 in Cincinnati, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2122585), Arturo Rey (Unsplash.com), Gemälde von Georg Friedrich Kersting (in: Hannelore Gärtner: Georg Friedrich Kersting. Seemann, Leipzig 1988, ISBN 3-363-00359-5, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12291518), United Artists Corporation (Public Domain).

Habilitierter Gesellschaftswissenschaftler, Dozent und Publizist | Webseite

Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.

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