Auf der Straße, im Beisl, beim Einkaufen, am Bahnsteig, im Hörsaal, im Büro, am Markt, bei der Besprechung, zu Hause (wer weiß?) trägt kaum mehr jemand den Lappen vor Mund und Nase. Es lässt sich wohl hieraus schließen, dass viele diese absurde und verzerrende Vorrichtung für nichts-bringend erachten, oder sogar als schädlich, was sie als Alltagsgegenstand zweifelsohne auch ist – physisch, psychisch und sozial – und deswegen getrost darauf verzichten: Gesicht zeigen und frei atmen.
Warum nur wird dann aber sofort von fast allen in Wien beim Betreten der Apotheke oder der U-Bahn oder des Busses, beim Arzt und im Spital die Maskierung wieder angelegt?
Beobachtet bedecken sich in Wien zu Stoßzeiten geschätzt 70-90 % der Passagiere im öffentlichen Verkehr, als wäre dies das Normalste der Welt.
Ist man der Ansicht, die Virusdichte in diesen öffentlichen Räumen sei so hoch, dass die wirkungslose Maske hier ihre magische Wirkung entfalten kann? Will man nur nicht auffallen? Liegt es an der viel beschworenen Solidarität? Ist es die Angst vor irgendeiner Strafe, die angemerkt seit Längerem kaum verhängt wird? Oder ist es der Gehorsam? Ist es die reine Pflicht an sich, sich an die jederzeit geltende Verordnung zu halten? Ist es die Unfähigkeit, eine eigene, rationale Entscheidung zu treffen und zu vertreten?
Die abstrakte Frage lautet: Wann ist es in einem Rechtsstaat legitim, sich zu verweigern, eine Verordnung oder ein Gesetz zu befolgen, und unter welchen Umständen ziviler Ungehorsam gestattet und geboten sein kann?
Aber auch, welche Verordnungen und Gesetze der Rechtsstaat überhaupt verabschieden darf? Dürfen beschlossene Gesetze physikalischen Naturgesetzen, bewährten, beispielsweise medizinischen Erfahrungen, oder der bloßen (auch ökonomischen) Vernunft widersprechen? Darf offensichtlicher Unsinn, Wirkungs- und Sinnlosigkeit zum Gesetz erhoben und fortgeschrieben werden? Ist der Bürger verpflichtet, solches anzuerkennen, gut zu heißen und zu befolgen? Was, wenn der Staat selber zum Befehlsempfänger verkommen ist und im Auftrag von anderen, nicht demokratisch legitimierten Institutionen und Organisationen agiert, statt im Auftrag der eigenen Bürger? Wie viel soll der Staat vorsorgen und wie viel darf er bevormunden?
Der Anlass, solche alten philosophischen Fragen zu stellen, ist noch stärker gegeben. Die vom Staat aktuell seit 3 Jahren durch Handlungen, Gesetzesnovellen und ewige “Maßnahmen” angebotenen Antworten sind, insofern man sich überhaupt der Problematik bewusst ist, vollkommen unzureichend.
Ein altes Merkmal des idealen Rechtsstaates besteht darin, dass es den Bürgern möglich ist, sich jederzeit beim Gesetzgeber Gehör zu verschaffen, die Gesetzgebung zu beeinflussen, auf Fehler hinzuweisen und eine Korrektur herbeizuführen.
In einer idealen Demokratie ist es ebenso möglich, jederzeit die Regierung und deren Repräsentanten abzusetzen, durch Wahlen, durch Argumente, durch Opposition, durch Proteste, wenn das wegen Inkompetenz, Unwissenheit, Kurzsichtigkeit, Dummheit, Planlosigkeit, Arroganz, Fehlverhalten, Korruption, Rechtsbruch, Untätigkeit oder schiere Abwesenheit geboten ist.
In den modern verwalteten westeuropäischen Demokratien sind diese Rechte zwar formal noch gegeben, aber Regierungen und Institutionen ignorieren gekonnt und getrost berechtigte Anliegen. Sie beeinflussen durch Propaganda und mediale Gleichschaltung, durch Umfragen und “Influencing” (1) und durch mehr oder weniger offensichtliche Zensur – neuerlich massiv digital unterstützt – und scheinen, man wagt es kaum auszusprechen, fast bereit, demokratische Grundrechte einzuschränken, wenn die Rufe doch zu laut oder zu “gefährlich” werden.
Unter solchen bedauerlichen Zuständen bleibt der mündige Mensch am Ende seinen eigenen Entscheidungen überlassen.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Warum …” von Jesper Larsson Träff erschien erstmals am 13.12.2022 auf dem Blog “Kein Zustand“. Es wurde Neue Debatte vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz eingefügt und Links und Anmerkungen ergänzt. Die hier geäußerten Meinungen und Analysen sind persönliche Ansichten und stehen in keinem Zusammenhang mit der TU Wien.
Quellen und Anmerkungen
(1) Der englische Begriff influence bezeichnet eine Macht, die sich auf eine Person, eine Sache oder den Verlauf von Ereignissen auswirkt, und insbesondere eine Macht, die ohne direkte oder offensichtliche Anstrengung wirksam ist. Als Beispiel kann der allgegenwärtige Einfluss des Fernsehens auf das moderne Leben angeführt werden oder auch der Einfluss, den zum Beispiel radikale Philosophen, Prediger, Sektierers usw. auf Menschen ausüben (können). Gemeint ist aber auch eine Macht, die auf Prestige, Reichtum, Abstammung (Familie, Dynastien etc.), Fähigkeiten oder einer Position beruht beziehungsweise eine Person, die eine solche Macht ausübt.

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Foto: George Pagan III (Unsplash.com)
Jesper Larsson Träff (Jahrgang 1961) kommt aus Dänemark. Er ist Professor im Bereich Informatik an der Technischen Universität Wien. Träff betreibt Grundlagenforschung auf dem Gebiet des parallelen Rechnens mit den Schwerpunkten Modelle und Algorithmen für grundlegende Problemstellungen, Algorithmen und Datenstrukturen für Shared-Memory-Systeme, Komplexitätstheorie für paralleles Rechnen, Zeitplanung und Routing, Softwareschnittstellen für paralleles Rechnen wie zum Beispiel Message-Passing Interface (MPI), Hochleistungsrechnen, experimentelle parallele Algorithmik, Leistungsanalyse und Benchmarking.
2 Antworten auf „Warum …“
Zitat: „Die abstrakte Frage lautet: Wann ist es in einem Rechtsstaat legitim, sich zu verweigern, eine Verordnung oder ein Gesetz zu befolgen, und unter welchen Umständen ziviler Ungehorsam gestattet und geboten sein kann?“
Bei zivilem Ungehorsam wird der Rechtsstaat schon in Frage gestellt. Die Frage nach der Legitimität ist deshalb obsolet. Entweder ich befolge die Anweisungen und Gesetze, dann verbietet sich ziviler Ungehorsam von allein, oder ich rebelliere und stelle mich gegen den Staat und seine Anordnungen, was immer erstmal eine strafbare Handlung ist, sobald ich gegen Gesetze, Verordnungen und Paragraphen verstoße.
Insofern besteht eigentlich kein legitimer, ziviler Ungehorsam in einem Staat, denn ein Staat schützt immer zuerst sich selbst und seine eigenen Interessen. Der Bürger ist Mittel zum Zweck, er hat zu gehorchen und zu bezahlen (Steuern). Der Gegenwert, den die Bürger dafür erhalten ist marginal und kann jederzeit aufgehoben werden, bis hin zur Freiheitsberaubung und in manchen Staaten ist sogar die Tötung erlaubt, bei Gefahr im Verzug in allen Staaten und ohne richterlichen Beschluss, sofort im polizeilichen/militärischen Einsatz.
In einer freien, offenen, staatenlosen Gesellschaft ist ziviler Ungehorsam nicht nötig. Jedoch eine Utopie, geschweige denn, dass es jemals verstanden wird. Insofern schützt die (abstrakte) Gesellschaft weiterhin ihr eigenes (abstraktes) staatliches Gefängnis und bettelt manchmal um Ungehorsam, anstatt sich zu befreien.
Sehr schön zusammengefasst, vor allem der letzte Absatz. Leider kann sich kaum einer ein Leben jenseits eines Untertanendaseins auch nur vorstellen.