Männerbummsen oder die Inka-Masche (1980)
Zum Männerbummsen waren beide gekommen wie weiland die Jungfrau Maria zum Kind. Durch Parthenogenese: Jungfernzeugung.
Nur dass beide Frauen keine Jungfrauen mehr waren als sie Kinder bekamen: Inga Jens. Karin Catrin. Und keiner der beiden Verursacher hieß Joseph.
“Irgendwann fängst an und machst was”, sagt Inga in ihrer Selbsthilfegruppe. Auch wenn manche diese Bemerkung unpassend finden.
Sonst lebt Inga zurückgezogen. Vor allem, bis auf abends die Stunden, vor Männern.
Tagsüber das Übliche. Jens ganztägig in den Hort. Haushalt. Einkaufen. Erledigungen.
Jens soll im neuen Schuljahr Erstklässler werden.
Inga braucht jetzt keine Tippereien mehr zu übernehmen. Und hat genug Geld und Zeit, seitdem Karin und Inga abends zusammen auf die Straße gehn.
Nur dass sie sich so anschminken müssen, stinkt beide an. Aber das gehört zum Geschäft für Frauen … nachts auf der Straße.
Karin und Inga machten nie länger als halb eins. Manchmal sogar nur bis halb elf.
Zum Beispiel nach Fußball-Länderspielen. Wenn Männer nicht nur ‘Deutschland, Deutschland trunken’ waren …
Karin war früher Chefsekretärin bei Intermetall in der Zentrale. Karin ist schon etwas älter. Viel wusste Inga nicht von Karin. Dafür Karin umso mehr von Inga.
Karins Catrin war bei der Scheidung ihrem Ex zugesprochen worden. Dafür hatte Karin kein Verständnis. Aber gute Nerven. Bisher war es Inga nicht gelungen, Karin zur Teilnahme in ihrer Selbsthilfegruppe zu bewegen.
Seitdem ihr Vater Rollstuhl fährt, zahlt Karin das Studium ihres Bruders allein. Aber auch das ist seitdem Inga und Karin abends gemeinsam losmachen kein Problem.
“Geht fast mit der linken Backe ab”, sagt Karin.
Punkt neun fahren Karin und Inga, gut ausgerüstet, das erste Mal die Kaiserallee ab. Und auch wer sie kannte, würde sie im eignen flotten Corsa unter Montur und Schminke nicht erkannt haben.
Ingas Corsa ist dezent cremig. Karins rotknallig.
Nur wenn Inga sich einsam fühlte, ging’s abends nicht so gut. Das aber kam nicht mehr als ein Mal im Monat vor.
Die Einsatzstraßen bereitete Inga und Karin abwechselnd vor: Auswertung aller Lokalseiten. Auch der kostenlosen Anzeigenblätter vor Ort. Inseratenpost der Klubs. Manchmal hört Frau auch im Café W. was.
Und immer wieder mal direkt der Kontakthof. Nachdem diese Männer sich dort nur abreagiert hatten. “Sind sie immer für’n echten Bumms gut und woll’n schnell weg”, sagt Inga und weiß: Auch wenn diese Männer nicht so viel springen lassen wie die vorm Reichshof und bei Kongressen.
Die Inka-Masche ist so einfach wie wirksam: Über geänderte Vorfahrten sind Inga und Karin immer auf dem Laufenden. Beide haben sich die Kurzwellen zum Polizeifunk der Landeshauptstadt stecken lassen. Und eine lässt sich immer vorn anbummsen. Von einem Mann am Steuer. Je größer das Auto, desto besser … jedenfalls in der Regel.
Der andre Corsa kommt sofort. Immer Minuten weg von jeder Polizeistreife. Über deren Standorte sich Inga und Karin im örtlichen D-2-Netz jederzeit direkt verständigen konnten.
Karins Hauptstrecken: Bremer Ecke Friedrich. Und Adolf Ecke Linden. Und wenn’s schnell genug ging und der Bummser am Steuer allein und veralkt war, auch die eine oder andere Querstraße der Kaiserallee selbst.
Inga hat keine Hauptstrecken.
Wenn von der einen Stichworte kamen wie: “Weißer Merz, NE-Nummer, aus der Adolf, zu schnell, rechts ab in Moltke, viel zu schnell, Du, ich fahr’ jetzt los, bis gleich, mach’s gut” – dann fuhr die andre so weit an die Straßenecke, dass die die gesamte Straße einsehn konnte.
Manchmal kamen auch unerwünschte kleine Helfer. Oder ein Fenster ging auf. Aber das war selten.
Meist sprangen sie gleich den hilflos-schicken Frauen bei. Die Männer. Jedenfalls die, die auf die Straße kamen.
Und wenn der Fahrer nicht sofort zahlen wollte für die ständig lockere Stoßstange oder die immer leicht verzogene Beifahrertür oder die sichtbare Schramme im Gesicht von Inga oder Karin … musste er seine Adresse hinterlassen. Mit Versicherungsnummer. Und zur Sicherheit nachweisen, wo er beschäftigt ist und sein Konto hat.
Inga hatte ihn inzwischen mit Karin oder Karin ihn inzwischen mit Inga geknipst. Wie auf dem billigsten Straßenstrich eben.
Deshalb hatten sich Karin und Inga so aufgemacht: Alles hatte so auszusehn wie beim Bumms auf dem Billigstrich für 20 Mark und husch, husch weg, weg von den Lackhochstiefeln.
Deshalb zahlten die Herren, die unsre Landeshauptstadt besuchten, meist auch unverzüglich die Tausend Mark aufs Lambert Bankkonto, nachdem sie angeschrieben wurden. Und sie wurden immer gleich am Tag nach dem Bumms persönlich angeschrieben.
Das war Karins Aufgabe. Als ehemalige Chefsekretärin mit dem erforderlichen Einfühlungsvermögen.
Vor allem kam so mehr raus. Zumindest ab gehobenem Dienst im öffentlichen. Oder Gruppenleiter Industrie. Oder Abteilungsleiter Handel … mehr als die Zwei-, Dreihundert krallebares Trinkgeld fürs Corsablech.
Tausend Mark am Abend zu zweit sind kein Trinkgeld. Auch wenn Inga und Karin dafür den Bumms machen mussten. Schon wegen der Fotos.
Weder Karin noch Inga haben bisher einer Autoversicherung einen Verkehrsunfall gemeldet.
Der kleine Damenrevolver passt gut ins Handschuhfach des Corsa. Oder in eine wildlederne Damenhandtasche. Er sieht aus wie ein Kinderspielzeug. Bisher musste Inga ihn erst einmal gebrauchen: Weil der Stadtverordnete, zugleich Schriftführer im Unterbezirk der politischen Partei, die sich sozial und demokratisch nennt, für Dreihundert den Rest der Nacht von Karin und Inga gekauft zu haben glaubte …
Dieser Mann überweist seitdem monatlich fünfhundert an die Bank nach Bruxelles und weiß, warum.
Sicherlich würden auch die Versicherungen zahlen. Nur dass dann das Geschäft nach einem halben Dutzend Bummsen gelaufen wäre: “Die schlafen auch nicht”, sagt Inga. Und Karin: “Frau soll’s nicht auf die Spitze treiben”.
Und Karin und Inga können sich beim Bummsen noch an Männern rächen.
Inga und Karin sind stolz, dass sie als Frauen männerbummsen können. Und wenn sie abends beide überzeugt sind, in einigen Tagen Tausend Mark überwiesen zu bekommen … dann läuft nichts mehr. Weil sie wissen, wann Schluss ist und Schluss machen. Dann gehn sie zu Karin ins Apartment gleich Fotos entwickeln. Dabei trinken Inga und Karin immer viel Kaffee … schwarz. Den macht Inga mit einer Prise Salz an. Nicht immer öfter. Immer.
Spätestens um eins liegen beide im Bett. Inga immer allein. Jens schläft nebenan und fest. Karin meist allein. Catrin ist immer noch beim Ex.
Und wenn nichts dazwischenkommt, der jetzt direkt gewählte landeshauptstädtische Oberbürgermeister weiter so messefreundlich ist, die Herrenklubs so langweilig und Deutschland, Deutschland oder Fortuna, Borussia und der FC weiter so spielen, – will Inga im Sommer mit dem Bummsen aufhören. Und mit Jens nach Chios, Samos, Naxos, Lesbos, Ikaria oder eine andere der ägäischen Inseln. Bildermalen.
Karin, die erfahrenere, wird sich dann eine neue Partnerin zum Bummsen suchen müssen. Wenn sie weitermachen will. Und vielleicht besser auch die Stadt wechseln, wenn sie noch’n paar Jahren polizeilich unbehelligt weiter Männerbummsen will …
Redaktioneller Hinweis: Die Erzählung “Männerbummsen oder die Inka-Masche” ist entnommen aus “Heldentod: Kurze Texte aus langen Jahren”. In dem Buch sind bis dato unveröffentlichte Kurztexte von Richard Albrecht erstgedruckt, die zwischen 1980 bis 2010 verfasst wurden: Grotesken, Ausgedachtes, Fiktives, Gereimtes, Ungereimtes, Autobiografisches und Erlebtes. Es geht um Flirt, das Altern, um das Rauchen und die Männlichkeit. Die Buchhandelsausgabe erschien 2011 bei Shaker Media (ISBN: 978-3-86858-613-8).

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Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: M Koshy (Unsplash.com)
Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.