Die Wintersonne bringt es an den Tag. Zwischen dem mit Blattgold-Splittern verzierten chinesischen Bronzepferd auf dem Holzfußboden meines Balkonzimmers und der ein Meter entfernten Holzskulptur meines Buddhas ist ein schnurgerader, glitzernder Faden gesponnen. Das Pferd hält den Faden zwischen den Zähnen, der Buddha fängt ihn mit erhobener Hand auf.
Die Spinne, die dieses Meisterwerk geschaffen hat, muss hier noch irgendwo sein. Ich werde also sehr vorsichtig sein müssen, wenn ich das nächste Mal mit dem Staubsauger anrücke.
Während ich diese Worte schrieb, ist die Sonne ein Stück weiter gewandert. Der Faden ist nicht mehr zu sehen, aber er ist da. Nach Auffassung der Lakota sind Tiere Messenger. Die Botschaft der Spinne werde ich hoffentlich bald entschlüsselt haben …
Warum fällt mir bei dieser Gelegenheit eine Geschichte ein, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe, die aber immer noch geeignet ist, mir die Schamesröte ins Gesicht zu treiben? Die aber auch einen wichtigen Wendepunkt in meinem Leben bezeichnet und mich überdeutlich spüren lässt, in welch schrecklicher Solidargemeinschaft ich auf Dauer gelandet wäre, wenn eine innere Instanz nicht die Lehren aus ihr gezogen hätte, um mich neu aufzustellen.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Sie spielte im Gymnasium am Ratsmühlendamm in Hamburg-Fuhlsbüttel, in der Obertertia (9. Klasse), um genau zu sein. An diesem Morgen bekamen wir einen neuen Klassenlehrer, der uns zur Begrüßung durch seine verspiegelte Sonnenbrille musterte. Ziemlich lange, wie ich fand.
“Gut”, sagte er schließlich, “wir müssen es ja noch eine Weile aushalten miteinander. Deshalb schlage ich vor, dass ihr mir von euch berichtet. Ihr werdet mir morgen also einen Aufsatz mit dem Titel ‘WER BIN ICH?’ vorlegen. Die guten wie die schlechten Eigenschaften, ihr wisst schon. Dabei sollt ihr durchaus selbstkritisch mit euch umgehen. Verstanden?”
Wir murmelten zustimmend.
Der Mann selbst (ich habe seinen Namen noch im Kopf), stellte sich uns nicht vor. Später erfuhr ich, dass er im Dritten Reich Schulleiter in Hamburg gewesen war, ein hohes Tier also (1). Aufgrund des Lehrermangels hatte man ihn nach dem Krieg in den Schuldienst zurückgeholt, wo er seitdem als einfacher Klassenlehrer unter seiner Würde Dienst tat.
Am nächsten Tag sammelte der Dr. (er bestand auf dieser Anrede) unsere Aufsätze ein, um sie zu Hause auszuwerten. Meine drei Seiten bestanden hauptsächlich aus üblen Selbstbezichtigungen, die bei Weitem nicht alle stimmten, aber aufgrund meines Bekennermuts sicher Anerkennung finden würden.
Ich hatte mich als überaus reizbare Figur beschrieben, als jemand, der im Unterricht häufig gelangweilt und daher unaufmerksam ist, der in der Familie beständig Streit sucht, gerne Kaugummi klaut und noch einige andere Nuancen eines nicht sehr liebenswerten Charakters, der eigentlich nichts mit mir zu tun hatte. Vorauseilender Gehorsam nennt man das oder besser: übelste Schleimerei.
Meinen Mitschülern muss ähnliches widerfahren sein. Jedenfalls saßen wir am nächsten Tag wie ein durch Selbstkasteiung geschundener Haufen vor dem Nazi mit der verspiegelten Brille, als der die Hefte aus der Aktentasche klaubte, um sie sorgfältig auf dem Pult zu stapeln.
“Ich bin erstaunt”, begann der Mann, “wie offen und ehrlich, wie mutig sich die meisten von euch beschrieben und offenbart haben. Das hat mich überrascht. Angenehm überrascht.”
Es war nicht nur zu spüren, sondern auch zu hören, wie sich die Erleichterung in der Klasse über den Atem Bahn brach. Wir saßen wieder aufrecht und das tat gut. Der Dr. nahm das oberste Heft vom Stapel, hielte es mit theatralischer Geste in die Luft und sagte: “Aber leider hat nicht jeder hier im Raum die Aufgabe verstanden!”
Er riss ein Blatt Papier aus dem Heft und hielt es mit spitzen Fingern hoch. Soviel ich sehen konnte, war es lediglich mit einer Zeile beschriftet.
“Dieser Aufsatz – darf man es so nennen? – stammt von einer gewissen Petra Bernstein. Wo sitzt sie? Aha, da. Darf ich ihn vorlesen, Frl. Bernstein? Danke. Dauert nicht lange, dein Aufsatz ist ja kurz und bündig. Hier steht also Folgendes, hört genau zu: ICH FINDE MICH GUT SO WIE ICH BIN!”
Der Dr. nahm die Sonnenbrille ab und blickte die schöne Petra verächtlich an. Sie saß hinten, ganz hinten an der Wand. Und wir alle drehten uns nach ihr um. Wir alle setzten einen hämischen, empörten Gesichtsausdruck auf, als hätten wir die Vollmacht erteilt bekommen, über sie zu richten.
Ich war auch dabei, ich hatte mich auch umgedreht und zu Petra hinübergeglotzt, die mit feuchten Augen einen nach dem anderen von uns betrachtete. Schließlich stürzte sie aus der Klasse.
Wir hörten sie im Flur einen lauten Schrei ausstoßen. Ich kann ihn noch immer hören. Er entsprang der Verzweiflung, von feigen Arschkriechern wie uns an den Schandpfahl gestellt worden zu sein. Sich alleine wiederzufinden unter seelenlosen, manipulierten Monstern, denn solche waren wir für sie an diesem Tag. Ich auch.
Ich betrachte dieses Ereignis heute noch als meine größte Schmach. Immerhin hat sie mir geholfen, mich rechtzeitig und ein für alle Mal aus der Solidargemeinschaft der Mitläufer zu lösen, deren unerträgliche “Armee” uns ja gerade zwei Jahre ausgegrenzt, diffamiert und bespuckt hat.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Dirk C. Fleck wurde unter der Überschrift “Nevertheless – Nichtsdestotrotz” erstmals auf Apolut.net publiziert und in aktualisierter Fassung von Neue Debatte übernommen. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Anmerkungen ergänzt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Für die Rückkehr von Nazis in öffentliche Ämter in der Bundrepublik Deutschland etablierte sich das Schlagwort Renazifizierung. Bereits am 10. April 1951, keine sechs Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 und der totalen Niederlage Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, verabschiedete der 1. Deutsche Bundestag (bei zwei Enthaltungen) das sogenannte Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (BGBl. I S. 307). Es wurde am 13. Mai 1951 verkündet.
Dieses Gesetz, das rückwirkend zum 1. April in Kraft trat, wird auch als “Entnazifizierungsschlussgesetz” bezeichnet. Es ermöglichte zum Beispiel Mitläufern des NS-Regimes die Rückkehr in den öffentlichen Dienst. Ausgenommen waren sogenannte Hauptschuldige und Belastete. Durch das Gesetz wurde die Entnazifizierung, die ohnehin nie konsequent durchgesetzt wurde, auf Länder- und Bundesebene beendet. Unzählige Nazis wurden so quasi über Nacht zu Vertretern der neuen Demokratie. Beispielsweise steigerte sich in den ersten vier Bundestagen (bis 1965) die Zahl ehemaliger Nationalsozialisten bis auf 25 % aller Mandate

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Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „Nevertheless – Nichtsdestotrotz“
Ja, „Petras“ werden nicht nur in diesem Land, nicht geschätzt. Denn man wird ja schon in (Erb-) Sünde geboren. ;-) Doch die “wahren Sünder“, die ständig den moralischen Finger erheben, um ihre eigenen Missetaten zu kaschieren, sind nicht alle Nazis, sondern ganz „normale“ Menschen aus der Nachbarschaft. Nichtsdestotrotz, – fröhliche Weihnachten…