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Querfrontkritik

Richard Albrecht verfasste 2013 eine Rezension von Jost Hermands Buch “Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus”. Die in seiner Rezension enthaltene Querfrontkritik ergänzte eine Diskussion “gegen den wiederbelebten Irrweg” und bereicherte die Debatte um weitere Aspekte; auch das Scheitern des 1990 erweiterten Staates Bundesrepublik Deutschland als Entwicklungsvariante im Möglichkeitssinn:

Richard Albrecht verfasste 2013 eine Rezension von Jost Hermands Buch “Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus“. Die in seiner Rezension enthaltene Querfrontkritik ergänzte eine Diskussion “gegen den wiederbelebten Irrweg” und bereicherte die Debatte um weitere Aspekte; auch das Scheitern des 1990 erweiterten Staates Bundesrepublik Deutschland als Entwicklungsvariante im Möglichkeitssinn:

Hermands Buch “Verlorene Illusionen” versucht am Beispiel von Begriff und Verständnis von Nation(alismus) in Deutschland vom Heiligen Römischen Reich des “Sacrum Imperium” bis zum heutigen Ganzdeutschland der “Berliner Republik” nicht nur Begriffsgeschichte (wie Kultur-, Kriegs-, Wirtschafts- und zuletzt Staatsbürgernation), sondern will auch “die dahinter stehenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen” sichtbar machen.

Hermand arbeitet in achtzehn Kapiteln die Entwicklungschronologie des deutschen Nationalismus auf. Mich interessierten besonders die letzten drei Kapitel: der Darstellung der “unmittelbaren Nachkriegszeit” folgen die etwa gleichlangen Kapitel zur ehemaligen DDR als “gescheiterter Versuch, ‘das andere, bessere Deutschland’ zu sein” und zur ehemaligen BRD als erfolgreiche “Wirtschafts- und Staatsbürgernation” mit ihrer jahrzehntelang vorherrschenden Ideologie der Ideologielosigkeit. Als Ausblick gibt der Autor Einblicke in das am 3. Oktober 1990 gebildete neue deutsche Staatsgebilde unter dem Titel “Nationalistische Tendenzen in der Berliner Republik nach 1990”.

Das Schlusskapitel enthält nicht nur polemisch zugespitzte kritische Aussagen etwa zu Einzelheiten wie “systemkonformen Massenmedien” als Träger “massenmedial gesteuerter Volksverblödung”, sondern auf der Ebene der Besonderheit auch Hinweise zur “finanzkapitalistischen Gesellschaftsordnung” im gegenwärtigen Deutschland als “Market Driven Society, in der eine egoistische Erfolgs- und Profitgesellschaft als demokratische Staatsbürgernation ausgegeben wird, wo jedoch weder das Demokratische noch das Staatsbürgerliche noch das Nationale im Vordergrund steht”.

Der “selbstzerstörerischer Kurs der heutigen Wirtschaftsentwicklung”, die auf Dauer ihre eigenen sozialkulturellen Grundlagen nachhaltig zerstört (1), entspricht sowohl die “Ellenbogenmentalität” einer Ego-Gesellschaft ohne “Gemeinsinn” als auch der “Mangel an positiven politischen Inhalten innerhalb der bestehenden Gesellschaft der Berliner Republik”.

Hermands Aufarbeitung des Nationalen ist gewiss nicht nationalistisch, sondern lässt sich als demokratisch und national argumentierendes Plädoyer für eine aktuelle politische Querfront von links aus antifaschistischer Perspektive und auf intellektuell anspruchsvollem Niveau verstehen.

Dass die historisch rechte Querfront-Bündnisstrategie als third position in Deutschland im Krisenjahr 1932 politisch scheiterte, ist bekannt (2) – spricht aber nicht gegen das Querfront-Leitkonzept selbst. Gegen dieses spricht jedoch seine politik-ideologische und praktisch-organisatorische volksgemeinschaftlich-nationalstaatliche Ausrichtung als Grundtenor.

Diese bedingt seine auch theoretische Verkennung des inneren strukturellen Antagonismus von Nation. Diesen Grundwiderspruch arbeitete ein marxistischer Theoretiker 1913 nicht nur allgemein heraus (“Es gibt zwei Nationen in jeder modernen Nation”) – sondern präzisierte auch als Zwei-Kulturen-These:

“In jeder nationalen Kultur gibt es – seien es auch unentwickelte – Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche […] Kultur, und zwar nicht nur in Form von ‘Elementen’, sondern als herrschende Kultur.” (3)

Staat: “(…) politische Herrschaftsform, die das Zusammenleben einer Gesellschaftsformation innerhalb festgelegter territorialer Grenzen regelt.”

aus: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 1995: 1337.

Ein zweiter und weiter(gehend)er Kritikpunkt hängt mit der grundsätzlichen Offenheit gesellschaftlich-geschichtlicher Prozesse zusammen (4). Deshalb verwunderte mich, dass Hermand wohl zutreffend das Scheitern zweier historischer deutscher Nationalstaaten 1945 und 1989/90 beschreibt – die naheliegende Folgerung mit Blick auf die 1990 neugebildete Berliner Republik aber so gar nicht bedenkt. Und dies, obwohl der Autor, wie zitiert, nicht nur Einzelheiten kritisiert, sondern auch Besonderheiten benennt.

Damit soll das seit Herbst 1990 real-existierende staatliche Gebilde auf deutschem Boden keineswegs als gescheiterter Staat oder failed state (5) behauptet werden, – auch wenn es Anfang 2013 durchaus Anzeichen seines zunehmenden Zerfalls als Staat gibt.

Damit soll freilich, durch Hermands historische Hinweise angeregt und über diese hinausgehend, die Möglichkeit des Scheiterns dieses seit 1990 erweiterten Staates Bundesrepublik Deutschland als eine künftige Entwicklungsvariante im wissenschaftlichen “Möglichkeitssinn” (Robert Musil) – als eine (vermutlich von vielen deutschen Staatsbürgern als dystopisch bewertete) Entwicklungsvariante – angesprochen werden.

Im Übrigen trifft auch für geschichtliche Prozesse wie etwa das Scheitern von Staaten der Hinweis von Hannah Arendt zum Völkermord zu: wenn dieser “erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war”. (6)

Quellen und Anmerkungen

(1) Richard Albrecht: Von den Selbstheilungskräften zu den Selbstabschaffungstendenzen des Marktes. Zur Kritik des real-existierenden Kapitalismus, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 42 (1991) 8: 508-515; http://www.trend.infopartisan.net/trd0112/040112.html (abgerufen am 30.1.2023).

(2) Axel Schildt: Militärische Ratio und Integration der Gewerkschaften. Zur Querfrontkonzeption der Reichswehrführung am Ende der Weimarer Republik, in: Richard Saage, Hrsg., Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen (Frankfurt/Main 1986: 346-364).

(3) W. I. Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage [1913]; in: ders., Werke Band 20. Berlin 1971: 1-37.

(4) Richard Albrecht: The Utopian Paradigm, in: Communications, 16 (1991) 3: 283-318.

(5) siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Failed_state sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Gescheiterter_Staat (beide Links abgerufen am 30.1.2023).

(6) Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. (Neuausgabe, München-Zürich 1986: 322).

Hinweis

Der Beitrag erschien erstmals am 24.3.2013 auf https://opablog.net/2013/03/24/querfrontkritik-ein-gastbeitrag-von-richard-albrecht/ [Hg. Dr. Klaus-Peter Kurch]. Der dortige Text ist ein Auszug des JH-Porträts von Richard Albrecht “Jost Hermand. Vom Kunsthistoriker zum Nationalismus. Über die Entwicklung eines Gelehrten”; Erstdruck in der Bibliothekszeitschrift AUSKUNFT (Hamburg; Kiel), 33 (2013) I: 137ff.


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Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.

Von Richard Albrecht

Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.

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