Seit Jahren sticht mir ein weitverbreitetes Phänomen in die Augen. Es handelt sich um den Umstand, dass Wahrheiten existieren, die sehr viele Fragen beinhalten. Das tun sie deshalb, weil sie die eigene gedankliche Konstruktion des Lebens außer Kraft setzen.
Diese Erkenntnis ist schmerzhaft. Deshalb versuchen viele, die unzweifelhafte, aber unbequeme Wahrheit zu negieren. Nicht in dem versucht würde, ihren Gehalt zu hinterfragen und sie dadurch zu entwerten, sondern schlicht und einfach zu ignorieren.
Das kann man machen. Vor allem, wenn Aussicht darauf besteht, dass sich weitere Menschen der Handhabung dieser Technik anschließen. Das Produkt ist ein unausgesprochener Konsens darüber, eine Information, ein Faktum oder, in der höheren Form, eine Wahrheit nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Dann herrscht das Schweigen. Und zwar ein Schweigen, das beklemmend ist, aber angesichts der vielen Mühen und schmerzhaften Konsequenzen, die die neue Wahrheit mit sich brächte, sind viele bereit, diese Beklemmung zu erdulden. Weil sie aus Sicht derer, deren Deutung in Schieflage gerät, das kleinere Übel bedeutet. Lieber eine Beklemmung ertragen, als die Erkenntnis erdulden, dass man grundlegend falschliegt.
Wenn ich die gegenwärtigen Verwerfungen betrachte, die die Welt, unser Land und viele soziale Beziehungen erschüttern, weil Deutungen ins Wanken geraten sind, weil sicher geglaubte Annahmen falsifiziert wurden, weil Positionen nicht mehr haltbar sind, dann fällt mir auf, dass nicht nur angesichts neuer Erkenntnisse und Wahrheiten geschwiegen, sondern auch mit Vehemenz an absurden Erklärungsmustern festgehalten wird.
Diese Version der Negation von Wahrheit beschreibt am besten der Begriff der Lebenslüge. Nicht selten, und in unseren Tagen oft, wird das Festhalten an der Lebenslüge nur ermöglicht durch gesteigerte Militanz und zunehmende Aggression. Wollte man einen Punkt beschreiben, der am weitesten von der Möglichkeit eines aufgeklärten Erkenntnisprozesses gelegen ist, dann ist es dieser.
Mir hat es immer geholfen, komplexe Zusammenhänge und Entscheidungsoptionen auf meinen eigenen Erfahrungsbereich zu reduzieren und mich zu fragen, wie ich handeln würde, wenn es mich direkt beträfe und ich selbst entscheiden könnte, wie ich in der Situation verfahre. Dieses Verfahren hat mir persönlich immer sehr geholfen.
Und die Behandlung der Frage, wie ich damit umgegangen bin, wenn sich mir neue Wahrheiten darboten, die meine Erklärungsmuster erschütterten, dann muss ich bilanzieren, dass sowohl das Schweigen als auch das militante Festhalten an einer Lebenslüge im Desaster endete. Der einzige Weg, mit neuen, gänzlich veränderten Verhältnissen umzugehen, war die uneingeschränkte Akzeptanz der bitteren Wahrheit.

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Bruce Christianson (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Bitter Fruits“
in der natur gilt rigoros das minimalprinzip, praktisch energieaufwand/nutzen, das gilt eben auch für lebewesen und ihre lebensäußerungen bis ins erleben und denken hinein = solange der aufwand umzudenken, neues zu denken usw, keinen “höheren” nutzen verspricht, als das bisherige denken, wird letzteres also bis auf die zähne (auch eben “militant”) verteidigt, und neues abgewehrt, was am einfachsten durch simples ignorieren des neuen funktioniert, oder erweitert durch aberwitzige weiter-erklärungsmuster des alten denkens (hypersemiosen dann auf das alte).
neues kann immer erst gedacht werden, umgedacht also, durch zusätzliche trigger, welche über eine jeweils bestimmte energieschwelle heben, wobei danach das neue denken, empfinden, erleben im sinne fallback das alte ersetzt, ua deshalb reagieren wir zwar auf bereits eingetretene katastrophen, sind aber kaum in der lage, sie antizipatorisch vorwegzudenken, und damit im vorfeld schon ihr eintreten zu vermeiden (siehe klimasache u tausend andere)
die ganze zeit der sog “aufklärung” ist paradebeispiel für was ich meine: neues denken setzt sich immer nur durch durch bereits eingetretene katastrophen, oder durch rechtzeitige “energiebasierte” trigger im vorfeld schlechter entwicklungen – so funktioniert natur halt