Gerade hatte ich die letzten Korrekturen meines Feuerbach-Aufsatzes, der in einer philosophisch-humanistischen Fachzeitschrift veröffentlicht werden soll, abgeschlossen. In diesem weise ich nach, dass Marxens Rezeption und Auseinandersetzung mit Feuerbachs Religionskritik eine notwendige Voraussetzung für die Ausbildung des historisch-dialektischen Materialismus und damit für den wissenschaftlichen Sozialismus darstellt.
Das ist und war keine neue Erkenntnis. Auch der Aufsatz selbst ist nicht neu, sondern beruht auf einem Referat aus meiner Studienzeit, 1972 verfasst. Inhaltlich mussten die Aussagen nicht verändert werden, lediglich die Zitate, die ursprünglich nach der Bolin/Jodl-Ausgabe ausgewiesen wurden, nach der in der Zwischenzeit neu erarbeiteten Feuerbach Gesamtausgabe von Werner Schuffenhauer angeführt werden.
Nachdem der Computer heruntergefahren war, zog es mich auf die Terrasse, auf die die vormittägliche Sommersonne blinkte und die Sitzkissen angenehm erwärmte.
Auf dem Tisch lagen einige Bücher und Zeitschriften als leichte Liegestuhllektüre. Darunter waren auch der langatmige, aufklärerische Roman von Tschernyschewski “Was tun?” und die neuste Ausgabe von “clara”, Magazin der Fraktion “Die Linke” im Bundestag, das ich dann auch zur Hand nahm und unbekümmert durchblätterte. Bis mein Blick auf Seite zwanzig von einem kleinen Foto gefangen wurde.
Das Foto wurde bei einem Empfang der Partei “Die Linke” anlässlich des 53. Evangelischen Kirchentages in Dresden (1. bis 5. Juni 2011) aufgenommen und zeigt drei Personen:
Im Vordergrund links steht in hellem Anzug Gregor Gysi (1948), Fraktionsvorsitzender der Partei “Die Linke” im Bundestag, eng beisammen mit dem die Mittelachse des Fotos ausfüllenden Nikolaus Schneider (1947), Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in einem schwarzen Anzug, der mit seinem linken Arm und seiner linken Hand ihn an sich zieht; erkennbar ist auch, dass sich beide die Hände schütteln und tief sympathisierend anblicken, während etwas in den Hintergrund gerückt Bodo Ramelow (*1956), Fraktionsvorsitzender der Partei “Die Linke” im Landtag von Thüringen, in hellem Anzug, verzückt die Umarmung beklatscht.

Schneider und Ramelow tragen einen grünen Schal, auf dem schwarz die Kirchentagslosung “… da wird auch dein Herz sein” prangt. Das Foto ist bearbeitet und so zurechtgeschnitten, dass sich dieses Arrangement ergibt. Ich wurde stutzig. Da ist es wieder: das unselige Bündnis von Politik und Kirche.
Dieses Bündnis prägte nicht nur das Judentum, selbstredend auch den Islam, sondern auch das Christentum: War es doch Konstantin (270/288-337 vor unserer Zeitrechnung), der sein neufeudales Verwaltungssystem auf dem Diözösensystem der Christen aufbaute und im sogenannten “Arianerstreik” (318-381 n. u. Z.) die Theozide, die “Vergottung des Monarchen” (Voigt) förderte; sein Nachfolger Theodosius I. (347-395) erhob dann den Athanasianus (Katholizismus) zur Staatsreligion.
Friedrich der Weise (Sachsen) hielt bekanntlich seine schützende Hand über M. Luther (1483-1546), der sich mit der Verurteilung und Verunglimpfung der gegen die kirchlichen und weltlichen Feudalherrn kämpfenden Bauern bedankte und den sich vom Reich abspalteten Fürstenstaat ideologisch-religiös unterfütterte.
Die preußischen Könige leiteten jahrzehntelang ihren Herrschaftsanspruch von “Gottes Gnaden” ab und Wilhelm I. sowie Wilhelm II. zogen mit der Kaiserstandarte mit der Losung “Gott mit uns” in den Krieg. Die sogenannten “Deutschen Christen” dienten sich schon vor Hitlers Machtantritt dem faschistischen System an und einer der ersten außenpolitischen Verträge der Nazis war das Konkordat mit dem “Heiligen Stuhl” in Rom. Und diese unheilige Allianz prägte auch die Politik der Bundesrepublik.
Und jetzt: Der Ratspräsident der EKD auf dem Empfang der Partei “Die Linke” während des Dresdener Kirchentages – “ein Besuch mit hoher Symbolkraft”, wie Bodo Ramelow in seinen Kirchentagsblock stolz verkündet. Was beinhaltet das Symbol?
Es ist die alte Leier, das “Eiapopeia vom Himmel” (H. Heine), das auch das Motto des Kirchentages abgab: “Sammelt euch aber Schätze im Himmel, da sie weder Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nachgraben, noch stehlen. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.” (Ev. Matthäus, 6/21)
Es war im 19. Jahrhundert Ludwig Feuerbach, der durch seine Religionskritik in die intensive Verbindung zwischen Thron und Altar einen Keil getrieben und damit einen revolutionären Beitrag geleistet hatte. Und es ist jetzt im 21. Jahrhundert der Politiker der Partei “Die Linke” Bodo Ramelow, der als bekennender Christ nun den dunklen Mächten Renommee im tendenziell oppositionellen Lager verschaffen will.
In seinem Kirchentagblock schreibt er, wie er am 4. Juni auf dem Markt der Möglichkeiten verschiedene Politiker trifft, darunter auch Günter Beckstein: “Wir sind uns einig, dass wir beide – er als Protestant in der CSU und ich als Christ in der LINKEN – wissen, was es bedeutet, Teil einer Minderheit zu sein.”
Ja, was bedeutet es denn?
Besteht der Unterschied zwischen der CSU und der Partei “Die Linke” nur darin, dass Beckstein Protestant und Ramelow Christ ist? Soll diese Minderheit zu einer Mehrheit, die CSU protestantisch und die “Linke” christlich werden oder sollen die Parteien sich nicht mehr säkular, sondern religiös ausrichten?
Dann heißt es weiter:
“Am Nachmittag folgt dann für mich der Höhepunkt des Kirchentages. Ich darf mit Rabbiner Walter Homolka, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime Aiman Mazyek, mit Alt-Pröpstin Elfriede Begrich und Parteivorstandsmitglied Christine Buchholz über das Thema ‘Integrationsdebatten in Deutschland -Religion als Teil der Lösung!’ diskutieren.”
Ungeachtet dessen, dass anknüpfend an W. Schäubles Islamkonferenz ein reales politisches und soziales Problem in ein religiöses Nebelgebilde umgedeutet wird, fragt sich der Leser, was das Diskussionsthema beinhaltet. Soll Religion eine Lösung der Integrationsdebatten, der Integration und vor allem wessen Integration – der der Juden, Moslems, Protestanten und der “Linke” – darstellen?
Des Weiteren erfährt der Leser in Ramelows Kirchentagblock, dass der ‘Linke’-Politiker sich am Mittwochmorgen mit Nikolaus Schneider zu einem Frühstück verabredet hatte:

“Wir haben viel über die persönlichen Hintergründe für unser jeweiliges Engagement gesprochen, aber auch über aktuelle Fragen der Religionspolitik und nicht zuletzt auch über den Besuch des Papstes im Augustinerkloster in Erfurt. Es war ein sehr gutes und offenes Gespräch, an dessen Ende ich noch einmal auf unseren Empfang am Abend hinwies, allerdings fest annehmend, dass der Vorsitzende der EKD wohl kaum zu einem Empfang der LINKEN kommen würde … Fünf Minuten vor Beginn des Empfangs erhielt ich die Nachricht von Präses Schneider, dass er vorbeikommen wird. Und dann war er da. Der Ratspräsident der EKD auf dem Empfang der LINKEN zum Kirchentag – ein Besuch von hoher Symbolkraft.”
Symbol meint Sinnbild, Bekenntnis, Erkennungszeichen.
Seit Jahren wird im Gefolge der Einwanderungspolitik nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum ideologisch und politisch genutzt, um die Säkularisierung zurückzudrängen. Als Hauptideologen wirken Päpste und bürgerliche Ideologen wie J. Habermas, der die “postsäkulare” Gesellschaft, die sich auf eine religiöse Ethik stützen soll, propagiert.
Ist das Treffen Gysi/Schneider auf dem Evangelischen Kirchentag etwa ein Sinnbild und Erkennungszeichen dafür, dass die Partei “Die Linke” sich dieser Ideologie öffnen und sie empfangen soll?
Wenn dem so sein soll, dann gilt:
“Wer sich in sich selbst von dunklen, fremden Wesen beherrschen läßt, der bleibe auch äußerlich im Dunkel der Abhängigkeit von fremden Mächten sitzen. Und wer daher dem religiösen Gefühle im Gegensatz zur Freiheit des Denkens das Wort redet, der ist ein Feind der ‘Aufklärung’ und Freiheit, der redet dem Obskurantismus das Wort, denn alles ohne Unterschied sanktioniert der Obskurantismus des religiösen Gefühls.” – Ludwig Feuerbach
Ramelow erklärt in seinem Kirchentagblock des Weiteren:
“Es zeigt, dass Gespräche möglich sind, wenn man sich mit Offenheit und Toleranz begegnet. Dann muss man noch lange nicht einer Meinung sein, aber man kann miteinander reden über Verantwortung für Vergangenes, über gemeinsame Positionen und über das Verhältnis von Staat und Religion.”
Hier hätte ich mitreden, konkret mitreden können. Doch ich belasse es bei der nachfolgenden Dokumentation …



Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Obskurantismus und Opportunismus” wurde 2011 von Wilma Ruth Albrecht verfasst und in der Zeitschrift “Hintergrund” (Ausgabe III, 2011) veröffentlicht. Auf Neue Debatte erscheint das Essay als Fundstück in leicht aktualisierter Form.

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Foto und Screenshots: Joshua Lanzarini (Unsplash.com) und Wilma Ruth Albrecht
Wilma Ruth Albrecht (Jahrgang 1947) ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr. rer. soc.; Lic. rer. reg.) mit den Arbeitsschwerpunkten 19. und 20. Jahrhundert. Seit 2010 ist sie Autorin des Fachjournals soziologie heute. Sie veröffentlichte zahlreiche Publikationen. Ihr letztes Buch: ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (4 Bände, Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza, 2016/19).