“Sie müssen mir Luhmann nicht erklären. Meinen Studenten sage ich immer: Ich werde Luhmann erst dann lesen, wenn er Deutsch übersetzt ist.” – Lewis Coser [1913-2003] im persönlichen Gespräch, Heidelberger Altstadt, Sommer 1986.
Niklas Luhmann (geboren am 8.12.1927 in Lüneburg, gestorben am 6.11.1998 in Oerlinghausen), “der wichtigste deutschsprachige Vertreter der soziologischen Systemtheorie”, zählt “zu den herausragenden Klassikern der Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert” (1); in Berlin rangiert Luhmann nach Weber, Bourdieu, Durkheim und Merton auf Platz 5 der lesenswerten Top-Ten-Soziologen (2); in Graz gilt L. als einer der “50 Klassiker der Soziologie” (3). Das Fachmagazin soziologie heute führt Luhmann unter 38 ausgewählten “Klassikern” nicht auf. (4)
Als “mannemer” SoWi-Studie (1967-1971) wollte ich wissen, was hinter dem allermündigen Schlagwort Reduktion von Komplexität, ein paar Jahre später von der Parole kommunikative Kompetenz ersetzt, steht. Und las Luhmanns Bändchen “Vertrauen” (1968).
Luhmann fand ich trotz seiner Belesenheit als konservativen Denker weniger bedeutsam – auch wenn ich manche Hinweise, etwa zur Funktion von Massenmedien, zur Misere jeder postfestum-Empirie, zum so fluiden wie exklusiven Charakter von Netzwerken so wichtig wie zitabel fand.
Später las ich sowohl Luhmanns Buch über Liebe als Passion (1982) als auch Teile seiner Theorie von der Gesellschaft der Gesellschaft (1997), lernte diese Variante formaler Metasoziologie mit ihrem Desinteresse an Gesellschaft, die in Subsysteme genannte Teile zerlegt wird, wie Luhmanns Hyperakzentuierung von (intra, extra, Meta-) Kommunikation ebenso kennen wie die Schlüsselmetaphern funktionale Differenzierung, Autoreferentialität, Evolution als systemsteuernde und -erhaltende Funktionsmechanismen.
Und ich erlebte in der DGS-Theoriesektion im Mai 1994 bei Ida Ehre in Hamburg den – mehrsprachig brilliant vortragenden – Redner Luhmann, der seine These zum ausgegrenzten Tertium als Nullum als weltgesellschaftlich wirksame Universalchiffre Exklusion vorstellte.
Wer etwas erreichen will, muss (in Netzwerken) mitmachen. Wer sich ausschließt oder ausgeschlossen wird, kann nur eine Privatexistenz führen. – Niklas Luhmann (1995)
Stehen weder Luhmanns zahl- und facettenreiche Aufsätze der letzten fünfzig Jahre noch Luhmanns systematische Näherungen (Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. 1984; Die Wissenschaft der Gesellschaft. 1990), sondern “Die Gesellschaft der Gesellschaft” (2 Bände 1997) als opus magnum im Erkenntnismittelpunkt, greift jede Fokussierung auf Luhmanns kommunikationszentriertes Gesellschafts- und Menschenbild mit systemischen Handlungsimperativen von Akteuren in nach Intensitätsgraden unterschiedenen Interaktions-, Organisations- und Sozialsystemen zu kurz.
Im Zentrum von Luhmanns “Die Gesellschaft der Gesellschaft” (5) zur Trias Variation, Selektion, Destabilisierung steht das naturwissenschaftlich wie philosophisch wichtige Problem des Verhältnisses von Zufall und Notwendigkeit als Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. Wobei Luhmann besonders die Umformung von Entstehensunwahrscheinlichkeit in Erhaltenswahrscheinlichkeit interessiert. Das Selektionssyndrom mit seinem “unvisibilisierten” Doppelprozess Variation und Selektion und Selektion und Destabilisierung produziere Zufall “als Negation jedes systematischen Zusammenhangs der evolutionären Funktionen”.
Dieser (Zu-)Fall sei unplanbar, unbeobachtbar, unberechenbar und Kern jeder Evolutionstheorie. Positive Selektion führe zu Bewährung/Erhalt des Systems als “Folgewirkungen”, negative “potentialisiert” systematisch die negierte Möglichkeit: “das System” müsse “mit ihrer Ablehnung leben, obwohl es sie hätte nutzen können, und andere Systeme sie vielleicht genutzt haben oder nutzen würden […] Die Selektion garantiert also nicht notwendigerweise gute Ergebnisse.”
Entsprechend des Verständnisses von Planung als “intentionale Vorgriffe auf Zukunft” geht es Luhmann um eine Theorie unprognostizierbarer Veränderungen mit durch Evolutionsprozessen hervorgerufener Autopoesis des Systems. Die sich selbst verdankende “Evolution” produziere in einer “Gemengenlage” von Erscheinungen ein “Regime funktionaler Differenzierungen” auf Grundlage “selbstreferentieller Evolution”: Je größer die Systemkomplexität, desto höher die Innovation.
So weit, so gut – nur: Was haben Luhmanns anregende systemtheoretisch-biologische Hinweise mit Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft und handelnden Menschen/Gruppen zu tun? (6)
Quellen und Anmerkungen
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Niklas_Luhmann (abgerufen am 7.2.2023).
(2) Soziologie, 43 (2014) 3: 313-321.
(3) https://agso.uni-graz.at/archive/lexikon/pdfs/luhmann.pdf (abgerufen am 7.2.2023).
(4) https://soziologieheutebasiswissen.wordpress.com/2015/01/09/ausgewahlte-klassiker (abgerufen am 8.2.2023).
(5) Die Realität der Massenmedien. Gespräch mit Niklas Luhmann auf RB 2 (9.10.1997); verfügbar im Webarchiv unter https://web.archive.org/web/20140123063452/http://www.whagen.de/gespraeche/LuhmannMassenmedien.htm (abgerufen am 9.2.2023).
(6) Biologismuskritisch R. Albrecht, Gesellschaft als Organismus; in: Widerspruch, 12/1986: 172-175.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag “Luhmann, Luhmann über alles… ” von Richard Albrecht erschien erstmals in: soziologie heute, 8 (2017) 56: 47.

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Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.