Nun rufen sie bei mir an! Bodenständige wie Intellektuelle, Handwerker, Psychoanalytiker, Studenten. Und sie fragen mich, welches Land wohl das richtige wäre. Ja, wir sprechen über den um sich greifenden, immer dringender werdenden Wunsch, das Land zu verlassen.
Eigenartigerweise unterscheidet sich ihre Analyse von dem öffentlich gezeichneten Bild, das suggeriert, alles sei in Ordnung. Und bis heute, einmal abgesehen davon, dass ich keinen einzigen Menschen kenne, dem ich gravierenden Realitätsverlust oder den Glauben an verworrene Theorien unterstellen würde, sind die Analysen derer, die sich da melden, fundiert.
Sie sehen, was alles aus dem Ruder gelaufen ist in den letzten Jahren, und sie glauben nicht, dass eine Kurskorrektur noch möglich ist. Warum? Zumeist, weil sie in der existierenden politischen Konstellation keine Kraft sehen, die in der Lage wäre, einen selbstbewussten, an den Interessen des Landes ausgerichteten Weg zu gehen und lieber in Kauf nehmen, dass es gewaltige Konflikte geben wird.
Es winkt das Exil
Hinzu kommt, dass das, was hier pausenlos den russischen Verhältnissen unterstellt wird, nämlich eine exzellent funktionierende Propaganda, im eigenen Bereich genauso wirkt. Kurz: Das, was Menschen in ihrem Land hält, nämlich der Glaube, dass es von sich aus in der Lage wäre, Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen und eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln, wird nicht mehr gesehen. Es winkt das Exil als letzte Möglichkeit, um der sich anbahnenden Katastrophe zu entkommen. Lieber unversehrt in der Fremde sterben, als hier von Wahnsinnigen pulverisiert zu werden.
Analysen über den Zustand des Landes existieren zuhauf. Sie reichen von der einer übermächtigen, aber nicht leistungsfähigen Bürokratie über eine politische Klasse, die mehr an ihren Diäten klebt als an einer der Gemeinschaft verpflichteten Ratio.
Sie reicht von der außenpolitischen Abhängigkeit von einem Akteur, der exklusiv mittels Kriegen die imperiale Dominanz erhalten zu können glaubt und der damit begonnen hat, planvoll die kritische Infrastruktur hierzulande zu zerstören. Und es hat etwas damit zu tun, dass man sich schämt für das, was an Rassismus und Feindseligkeit nicht nur an Salonfähigkeit gewonnen hat, sondern zum Ton derer gehört, die vorgeben, im Interesse des Landes zu handeln.
Abstand von Europa und den USA
Einer der Anrufer brachte es aus meiner Sicht gut auf den Punkt: Er sagte, wenn ich vom Ende her denke, das heißt, wenn ich mir vorstelle, dass diese Figuren, von denen ich mich täglich durch ihre grenzenlose Dummheit, ihren autoritären Charakter und ihr Sektierertum belästigt fühle, wenn die sich durchsetzen, dann ist das hier nicht mehr mein Land. Und wenn sie auch scheitern, dann werden sie nichts hinterlassen, was an dieses Land, das einmal eine gute Reputation nach innen und außen hatte, erinnert.
Anhand der praktischen Fragen, um die es eigentlich bei den Gesprächen geht, ist klar, dass es sich nicht mehr um eine ferne Option handelt. Nein, viele haben sich bereits für das Exil entschieden. Sie erkundigen sich nach Klima, Sprache, Rechtssicherheit und, auch das spricht Bände, einer möglichst großen Entfernung von Europa und den USA. Wir reden von Uruguay, von Costa Rica oder von Indonesien. Dort werden deutsche Kolonien entstehen, die es in sich haben werden.
Und noch ein Tipp für diejenigen, die nichts mehr registrieren als ihre eigenen Sprechzettel: Seht euch an, wer und wie viele auswandern. (1, 2, 3) Das, was heute bereits statistisch erfasst ist, kompensiert keine wie auch immer geartete Immigration. Die deutsche Seele geht auf Wanderschaft. Bei aller kritischen Distanz: So viel Demütigung hat auch sie nicht verdient!
Quellen und Anmerkungen
(1) Bundeszentrale für politische Bildung (14.5.2018): Dossier Migration: Auswanderung. Auf https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/247684/auswanderung/ (abgerufen am 14.2.2023).
(2) Statista (28.6.2022): Einwanderung und Auswanderung nach/ aus Deutschland bis 2021. Auf https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2154/umfrage/entwicklung-der-zu-und-fortzuege-in-deutschland-seit-1987/ (abgerufen am 14.2.2023).
(3) Statistisches Bundesamt (Pressemitteilung Nr. 268 vom 28. Juni 2022): Migration 2021: 329 000 Personen mehr zu- als abgewandert. Auf https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_268_12411.html (abgerufen am 14.2.2023).

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Leon-Pascal Janjic (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Schlusspunkt Exil: Die das Land verlassen“
Besten Dank, Herr Dr. Gerhard Mersmann, wie immer eine hervorragende Analyse. Auch Andere analysieren gut. Mich hätte wirklich interessiert: Welches Land empfehlen Sie zur Ausreise . Ein Freund von mir kommt gerade aus Mexiko zurück. Wohin? Nach Deutschland. Gestern habe ich auf apolut gehört: Dr.Michael Meyen interviewt Bastian Barucker. Mr. Global, die Faschisten, die “Great Reseter” wirken global. Haben fast alles Geld der Welt und sind gut vernetzt. Es ist mit der Verlegung der Arbeitsplätze in Niedriglohnländer – 1. ist es nie niedrig genug, 2. ist irgendwann kein Land mehr übrig, wo Mr. Global noch nennenswert abschöpfen kann. Der Schwarm wird Lösungen entwickeln! In einer komplexen Welt muss Vieles ausprobiert werden. Mein Weg ist http://www.unsere-verfassung.de. Volksabstimmungen STATT Wahlen. Über Sachthemen. Aufwändig, aber die Politiker haben fertig.
Und wenn es im Darm verdächtig grummelt oder das Herzchen allzu sehr stolpert oder mal wieder ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben oder ein Bombenanschlag auf die Stimmung drücken, sind sie ganz schnell wieder da. ;-)