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Widerstand & System

Die Moorsoldaten und die Weltbühne

“Es fühlte sich gut an, diesen Seelen nahezukommen und mit ihnen zu weinen.” – Dirk C. Fleck

Vor Kurzem war ich zu Besuch in Ostfriesland und nahm die Gelegenheit wahr, die Gedenkstätte Esterwegen im Emsland zu besuchen (1). In Esterwegen hatten die Nazis 1933 eines ihrer ersten Konzentrationslager eingerichtet. Hier wurden angebliche und tatsächliche Straftäter und vor allem politische Gegner des Nazi-Regimes eingekerkert. Bei der Verfolgung der Widerständler arbeiteten SS, Polizei und Justiz Hand in Hand. Eine mörderische Allianz.

Ab 1936 bis zum Ende des Krieges diente Esterwegen als Gefangenenlager. Die Häftlinge mussten in der Landwirtschaft, der Moorkultivierung und in der Torf- und Rüstungsindustrie schwerste Zwangsarbeit leisten. Als der Luftkrieg die deutschen Städte erreichte, wurden Gefangene bei der Räumung von Blindgängern eingesetzt.

Insgesamt gab es im Emsland 15 Lager, in denen bis Kriegsende etwa 80.000 Menschen interniert wurden. Tausende kamen ums Leben. Nein, das trifft es nicht. Tausende wurden ermordet! Sie wurden erschossen, verhungerten, starben an Erschöpfung, Krankheiten und an den Folgen der Misshandlungen durch ihre Peiniger. Einer der politischen Häftlinge von Esterwegen war der Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky.

ADN-ZB
Carl von Ossietzky,
Publizist,
geb. 3.10.1889 in Hamburg
gest. 4.5.1938 in Berlin, an den Folgen der KZ Haft als Häftling im Konzentrationslager Esterwegen.
Der Journalist und Pazifist Carl von Ossietzky 1934 als Häftling des NS-Regimes im KZ Esterwegen. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-93516-0010, CC-BY-SA 3.0)

Carl von Ossietzky leitete seit 1927 die in Berlin erscheinende Wochenzeitschrift Die Weltbühne, die inhaltlich auf Politik, Kunst und Wirtschaft ausgerichtet war und während der Weimarer Republik als Publikation der radikaldemokratischen bürgerlichen Linken galt.

Neben Siegfried Jacobsohn, der das Blatt ursprünglich als Theaterzeitschrift “Die Schaubühne” 1905 gegründet und es 1918 in Die Weltbühne umbenannt hatte, und seinem Nachfolger Kurt Tucholsky, der nach dem Tod von Jacobsohn 1926 kurzfristig die Leitung übernahm, schrieben bis zu ihrem Verbot 1933 weit über 2000 Autoren für die Zeitschrift.

Auch zahlreiche bekannte Schriftsteller, Publizisten, Journalisten und Dichter wie zum Beispiel Arnold Zweig, Erich Kästner, Elisabeth Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger, Alfred Polgar, Robert Walser, Carl Zuckmayer und der Antimilitarist Erich Mühsam, den die Nazis 1934 ermordeten, veröffentlichten in Die Weltbühne.

Verfolgung eines Antimilitaristen

Ossietzky kritisierte in seinen Beiträgen die Parteien und ihr Verhältnis zur Demokratie. Eine pazifistische Grundeinstellung und Antimilitarismus spiegelten sich in den Artikeln, während in Deutschland die nach dem Versailler Vertrag verbotene Aufrüstung der Reichswehr im Verborgenen begann. Der Journalist Walter Kreiser thematisierte im März 1929 in einem Artikel, den er unter dem Pseudonym Heinz Jäger in Die Weltbühne veröffentlichte, den heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe.

Das System reagierte. Es zerrte Ossietzky als Herausgeber und Walter Kreiser als Verfasser des Beitrags auf die Anklagebank. Die Intention war klar: Die antimilitaristische Presse in der Weimarer Republik sollte zum Schweigen gebracht werden. Und die Justiz war dafür das geeignete Werkzeug.

Der Anfang des Artikels von Walter Kreiser alias Heinz Jäger über die heimliche Aufrüstung der am 12. März 1929 in "Die Weltbühne" erschien.
Der Anfang des Artikels von Walter Kreiser (alias Heinz Jäger) über die heimliche Aufrüstung der Reichswehr, der am 12. März 1929 in “Die Weltbühne” erschien.

Im sogenannten Weltbühne-Prozess, der internationale Aufmerksamkeit erregte, wurden Carl von Ossietzky und Walter Kreiser wegen Landesverrats und dem Verrat militärischer Geheimnisse angeklagt. Im November 1931 folgte das “erwünschte” Urteil: Je 18 Monaten Freiheitsstrafe. (2) Kreiser floh nach Frankreich und weiter über die Schweiz bis nach Brasilien, was ihm aus heutiger Sicht sicher das Leben rettete.

Ossietzky, der den Aufstieg der Nazis offenbar unterschätzt hatte, blieb in Deutschland und verbüßte den größten Teil seiner Strafe. Kurz nach seiner überraschenden Entlassung im Dezember 1932 kamen die Nazis an die Macht. In der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27. auf den 28. Februar 1933 wurde Ossietzky festgenommen. Er kam in die sogenannte Schutzhaft und wurde ins KZ Esterwegen verschleppt. Als politischer Häftling wurde er im Lager nicht nur zu schwerer Arbeit gezwungen, sondern wurde gedemütigt, misshandelt, gefoltert und gequält.

Der Preis für den Frieden

Die Öffentlichkeit nahm Notiz vom Schicksal des Medienmachers. 1934 wurde Ossietzky erstmals für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Nazi-Deutschland intervenierte gegen die internationale Hilfskampagne, blieb aber letztlich erfolglos, auch wenn 1935 niemand die Auszeichnung erhielt.

Carl Jacob Burckhardt (1891-1974), ein Schweizer Diplomat und Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, besuchte das KZ Esterwegen im Herbst 1935. Er sah auch Ossietzky und beschrieb ihn später als ein “zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge stark geschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen”. Ossietzky soll zu Burckhardt gesagt haben: “… sagen Sie den Freunden, ich sei am Ende, es ist bald vorüber, bald aus, das ist gut.” (3)

1936 wurde Ossietzky, der an Tuberkulose erkrankt und durch die Misshandlungen gesundheitlich gezeichnet war, aus dem Konzentrationslager entlassen und rückwirkend mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Er kam in ein Berliner Krankenhaus, wo er ständig von Gestapo und Polizei bewacht wurde. Von den erlittenen Torturen erholte er sich nicht mehr. Carl von Ossietzky starb am 4. Mai 1938.

Nacht und Nebel

Als ein Freund von meinem Besuch in der Gedenkstätte Esterwegen erfuhr, schrieb er mir diese Zeilen:

“Das war bestimmt sehr bedrückend, lieber Dirk, oder? Mit 15 Jahren haben wir uns in der Schule den Film “Bei Nacht und Nebel” anschauen müssen. Mich hat dieser Film so sehr verstört, dass ich danach wochenlang Albträume hatte, die mich selbst heute noch gelegentlich heimsuchen. Deswegen habe ich persönlich noch nie ein KZ besucht, weil ich es wahrscheinlich nicht ertragen könnte …” (4)

Ich verstehe ihn sehr gut, habe ihm aber Folgendes geantwortet:

“Bedrückend? Ja und nein. Es fühlte sich gut an, diesen Seelen nahezukommen und mit ihnen zu weinen.”

Die Gedenkstätte Esterwegen ist kein KZ-Museum wie Dachau oder Auschwitz. Die Gräueltaten, die dort stattfanden, sind in einer Halle neben dem ehemaligen Lager umfassend dokumentiert. Das Gelände selbst ist auf fantastische Weise “bereinigt” worden. So befinden sich dort, wo einst die Baracken der “Moorsoldaten” standen, junge Buchenhaine in exakt der Größe der kargen Häftlingsunterkünfte. Stelltafeln erzählen auf Schritt und Tritt die Leidensgeschichte der Gefangenen. Und zu dem Gelände, wo einst die Wachmannschaften untergebracht waren, führt nur noch eine dreistufige Treppe ins Nirgendwo.

Wo heute nur Wiese ist, mussten die Häftlinge für die SS-Mörder ein Schwimmbad mit Sprungturm anlegen. Dennoch hatten sich die Peiniger mehrmals über ihr Leben “abseits der Zivilisation” beschwert, sie forderten ein Unterhaltungsprogramm zu ihrer Belustigung, Varieté-Vorführungen zum Beispiel oder Kabarett-Vorstellungen – sozusagen als Ausgleich für die harte Prügelarbeit, die sie jeden Tag zu verrichten hatten.

Bei dem Gedanken, dass die meisten von ihnen nach dem Krieg ungestraft unter uns weiterleben durften, befällt mich eine ungeheure Wut, die sich nach dem Besuch in der Gedenkstätte Esterwegen allerdings in eine tief sitzende Traurigkeit gewickelt hat. Damit bleibe ich in unserer vom Ampel-Wahnsinn befallenen Republik, in der die Diffamierung Andersdenkender inzwischen wieder an der Tagesordnung ist, ziemlich allein.

Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Dirk C. Fleck wurde erstmals auf Apolut.net unter der Überschrift “Das Leid der Moorsoldaten und die Vergnügungssucht ihrer prügelnden Peiniger” publiziert. Es wurde für Neue Debatte überarbeitet und erscheint in aktualisierter Form. Quellen und Anmerkungen wurden ergänzt.

Quellen und Anmerkungen

(1) Gedenkstätte Esterwegen (Homepage): https://www.gedenkstaette-esterwegen.de (abgerufen am 21.2.2023).

(2) Damals.de (16.11.2016): Carl von Ossietzky verurteilt. Auf https://www.wissenschaft.de/zeitpunkte/carl-von-ossietzky-verurteilt/ (abgerufen am 21.2.2023).

(3) Carl Jacob Burckhardt: Meine Danziger Mission: 1927 bis 1939 (München 1960, S. 60f.).

(4) Der 1956 veröffentlichte französische Film “Nuit et brouillard” (deutscher Titel: “Nacht und Nebel”) ist eine Dokumentation über die deutschen Konzentrationslager und den Holocaust in der Zeit des Nazi-Regimes. Informationen zum Film auf http://www.film-documentaire.fr/4DACTION/w_fiche_film/5155 (abgerufen am 21.2.2023).


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

Fotos: Hugo Kruip (Unsplash.com), Bundesarchiv (Bild 183-93516-0010 / Walter Sohst, Heiner Kurzbein / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5359666),

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Von Dirk C. Fleck

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

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