Kaum ist das Kartenhaus zusammengefallen und sind die Feuer auf dem Maidan erloschen, da beginnt das große mediale Schweigen. Die letzten Tage hatten eine Dynamik, die politischen Zusammenbrüchen eigen ist. Janukowytsch hatte wie viele Autokraten vor ihm nicht damit gerechnet, dass die Sicherheitskräfte zu einem kritischen Punkt würden überlaufen können. Das haben sie aber getan. Dann ging alles sehr schnell.
Das Parlament beschloss offiziell die Absetzung des pro-russischen Despoten und ließ die seit mehr als zwei Jahren inhaftierte frühere Präsidentin Timoschenko frei. Diese wurde sogleich mit großer Eskorte zum Maidan gefahren, wo sie aus dem Rollstuhl heraus eine sehr emotionale Rede hielt, in der vom Ruhm der Ukraine die Rede war und von den toten Helden. Es war die erneute Bewerbung um das höchste Amt.
Dass der Beifall Grenzen hatte, lag wohl daran, dass die Dame, auch die Gas-Königin genannt, weit davon entfernt ist, eine demokratische Ikone zu sein. Sie dirigiert ihrerseits einen zur Oligarchie des Landes zählenden Clan, der vor Reichtum strotzt, der das Mittel der Korruption virtuos in der Politik einsetzt. Ob die jüngste Rebellion in der Ukraine ein solches Politikmodell zum Ziel hatte, lässt sich bezweifeln.
Obwohl verständlich ist, dass die Bilder von Kiews geschichtsträchtigen Platz eine mediale Attraktion sondergleichen besaßen, die politische Analyse dessen, um was es in der Ukraine geht, fand nicht statt. Obwohl flächenmäßig sehr groß und mit 42 Millionen Einwohnern alles andere als eine Randerscheinung, spielte die Ukraine lange Zeit in der geopolitischen Betrachtung doch keine Rolle, weil man sie als natürlichen Appendix Russlands sah. Erst mit der orangenen Revolution Timoschenkos wurde dem Westen bewusst, dass da mehr war als eine leer stehende Kühlhalle aus Zeiten des Kalten Krieges.
Vorwiegend agrarisch, mit einer Industriezone, die im Westen bereits Geschichte ist, präsentiert sich die Ukraine als ein Land mit großem Modernisierungsbedarf. Das politische System ist formal demokratisch, von seiner Anwendung jedoch in hohem Maße autoritär und intolerant. Ein gesellschaftlicher Umbau, der die Notwendigkeiten einer politischen Demokratisierung und einer ökonomischen Modernisierung anerkennt, ist jedoch abhängig von einem breiten politischen Konsens in der Bevölkerung. Sollte Timoschenko die Zügel in die Hand bekommen, wäre diese Option mit einem Schlag dahin, weil sie zu sehr polarisiert und Bestandteil des zu reformierenden Systems ist.
Die Offerten des IWF, die kaum dass Janukowytsch das Weite gesucht hatte, durch den Äther zwitscherten, entsprechen genau dem Muster, mit dem erneute soziale Brisanz vorprogrammiert ist: Ihr bekommt das Geld, das ihr braucht, wenn ihr den Markt liberalisiert und die staatliche Präsenz auf allen Sektoren zurückdrängt. Dass dieses dann auch in den Bereichen Gesundheit, Renten, Soziales, Bildung etc. geschieht, wird meist nicht gesehen, betrifft aber gerade jene, die aufbegehrt haben gegen die Fresssucht der Oligarchen. Als weiterer Preis wäre eine stärkere Distanzierung von Russland zu leisten, was so weit gehen könnte, dass die Ukraine, die kulturell immer sehr eng auch mit Russland verbunden war, zerrissen wird zwischen den geopolitischen Kraftzentren in Ost und West.
Das Land, das so aufopferungsvoll für mehr Freiheit gekämpft hat, steht vor gigantischen Aufgaben, die nur durch einen gemeinsamen Lernprozess, sehr große politische Sensibilität und einen geopolitisch weiten, sehr weiten Horizont in Angriff genommen werden können. Gegen schnelle Rezepte ist großes Misstrauen angebracht. Der Kampf um die Ukraine hat eben erst begonnen.
– 14. Februar 2014

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Foto: Diogo Nunes (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Fundstück: Konsequenzen in Kiew“
“Das Land, , …, steht vor gigantischen Aufgaben, die nur durch einen gemeinsamen Lernprozess, … und einen geopolitisch weiten, sehr weiten Horizont in Angriff genommen werden können.” Mit der Weisheit, die aus diesem Artikel spricht, scheinen Politikdarsteller nicht gesegnet zu sein.