Während sich auf der einen Seite eine als Zivilgesellschaft oder Expertengruppe überhöhte Meute täglich in neuen bellizistischen Schaumbädern verlustiert, existieren immer noch Menschen, die in der Lage sind, ohne Wallung und kühlen Kopfes die Lage zu analysieren.
Was auf der einen Seite Mut vermittelt, ist auf der anderen Seite ein trauriges Zeugnis für Politik und Medien. Dort herrscht die Verrohung, das gegenseitige Überbieten mit Feindbildern sowie sprachlichen und logischen Dummheiten. Von ihnen noch eine Lösung zu erwarten, die Tod und Zerstörung minimiert, ist pure Illusion.
Wenn der Scheiterhaufen brennt, ist alles erlaubt. Im Spiegel giftet ein medialer Tausendsassa mit einer Irokesenfrisur, dessen Expertise einzig und allein durch die Häufigkeit seines Erscheinens definiert ist, in unzivilisierter Form gegen alle, die sich für eine Option des Friedens aussprechen. (1) Und in der BILD wird eine Initiatorin des Manifests für den Frieden als eine bezahlte Agentin des Bösen diffamiert, als hätte es das Attentat auf Rudi Dutschke nie gegeben. (2)
Aber einmal den Unrat, mit dem zivilisierte Menschen täglich belästigt werden, beiseite. In einer informellen Gruppe von Menschen mit unterschiedlicher Biografie und Perspektive konnte ich gestern einer Analyse beiwohnen, die es verdient, formuliert zu werden. Das Prinzip war das nach Heinrich von Kleist, der es einmal die allmähliche Entstehung der Gedanken beim Reden nannte. (3)
Demnach stellte sich die Situation für die Diskutanten wie folgt dar:
- Dass Russland der Forderung der USA/NATO/EU nachkommt und die Truppen aus der gesamten Ukraine abzieht, inklusive der Insel Krim, ist nicht wahrscheinlich.
- Dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage wären, auf russisches Terrain vorzustoßen und Russland militärisch eine Niederlage zuzufügen, ist ausgeschlossen.
- Dass China es zulassen würde, dass Russland bezwungen und unter den Einfluss des Westens käme, ist ebenfalls ausgeschlossen. Die Koexistenz von Russland und China ist für beide Seiten essenziell.
- Dass USA/NATO/EU ihren bisherigen Kurs korrigieren und zu Verhandlungen mit Russland bereit wären, was zum Beispiel den Donbass und die Krim betrifft, ist nicht zu erwarten.
- Dass Wladimir Putin in Russland gestürzt wird, könnte eine Möglichkeit sein, aber sie würde auf keinen Fall zu einem Einlenken hinsichtlich der russischen Ansprüche führen. Betrachtet man die Figuren, die sich im russischen Macht-Portfolio bewegen, wäre eher eine Radikalisierung zu erwarten.
- Dass sich in den USA die politischen Verhältnisse ändern und ein republikanischer Präsident eine andere Position in diesem Konflikt einnimmt, ist möglich, aber erst nach den Wahlen 2024. Es wäre die wahrscheinlichste Option mit Effekt.
- Dass Wahlen in einem europäischen Land die Kriegsphalanx aufbrechen könnten, ist unwahrscheinlich.
- Dass die Tendenz zahlreicher Länder, sich vom US-Dollar als Weltwährung zu lösen und sich anderen internationalen Organisationen wie den BRICS-Staaten anzuschließen, sicher ist, was dazu führt, das Zeitfenster für die USA weiter zu schließen.
Die Schlussfolgerungen, die aus dieser Aufzählung resultierten, ergaben sich von selbst:
Eine Einstellung der Kampfhandlungen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erhoffen. Die einzige Möglichkeit auf eine Deeskalation (4) bestünde tatsächlich in den Wahlen in den USA oder in Dysfunktionalitäten der jeweiligen Militärmaschinerie (Munitionsmangel, technisches Versagen, logistische Probleme, keine Soldaten etc.).
Insofern ist die Gefahr einer gewaltigen Eskalation immens, da die Biden-Administration um das Zeitfenster bis zu den Wahlen im nächsten Jahr weiß.
Was denen bleibt, die die überwältigende Mehrheit in diesem Krieg ausmacht, die in der einen oder anderen Form dafür bezahlen, aber deren Stimme im blutrünstigen Geheul der Meinungsmaschinen keine Rolle spielt? Wahlen, das Hoffen auf ein Versagen der Militärmaschinerie und vielleicht auch ein bisschen mehr.
Quellen und Anmerkungen
(1) Spiegel (22.2.2023): Die Friedensschwurbler wollen hauptsächlich Frieden für sich selbst. Auf https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukrainekrieg-die-friedensschwurbler-wollen-hauptsaechlich-frieden-fuer-sich-selbst-kolumne-von-sascha-lobo-a-1fffb0db-55f3-414e-a457-a596c757f957 (abgerufen am 23.2.2024).
(2) BILD (22.2.2023): “Sahra Wagenknecht von Putin bezahlt”. Auf https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/russin-erklaert-ihren-hammer-vorwurf-sahra-wagenknecht-von-putin-bezahlt-82988870.bild.html (abgerufen am 23.2.2024).
(3) Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (1777 bis 1811) war Lyriker, Dramatiker, Erzähler und Publizist. Sein Aufsatz “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” entstand wahrscheinlich zwischen 1805 und 1806 in Königsberg und war vermutlich für eine Zeitschrift bestimmt. Die Schrift wurde aber erst 1878, also viele Jahre nach dem Tod von Kleist, veröffentlicht. Probleme, so der Ansatz von Kleist, denen durch Meditation nicht beizukommen sei, wären zu lösen, indem man mit anderen darüber spricht. Dabei sei es nicht wichtig, dass der Gegenüber die Materie kennt, sondern der ausschlaggebende Punkt sei das eigene Reden über den Sachverhalt. Mit dieser Methode könne man sich selbst am besten belehren: “Die Idee kommt beim Sprechen”.
(4) Deeskalation ist im Konfliktmanagement eine Strategie, Konflikte oder Gewalt stufenweise abzubauen oder zu verhindern. Gegensatz ist die Eskalation.

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Foto: Diogo Nunes (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.