Oskar Maria Graf hatte vieles erlebt: Gezwungen zu einer Bäckerlehre in Oberbayern, Flucht nach München, Bekanntschaft mit Erich Mühsam und Franz Jung, Rekrutierung in den Ersten Weltkrieg an die Ostfront, Nervenzusammenbruch, ein Jahr Aufenthalt in der Nervenheilanstalt, Teilnahme an der Münchner Räterepublik, Avancement zu einem der meist gelesenen Schriftsteller der Weimarer Republik, nach seinem Aufruf “Verbrennt mich!” Exil in Österreich und der Tschechoslowakei und schließlich 1938 Übersiedlung nach New York, wo er bis zu seinem Tod 1967 blieb.
Seine Romane, die in der Tradition der mündlichen Erzählkunst standen, aber ansonsten mit allen Dogmen brachen, an denen sich die deutsche Gesellschaft abarbeitete und die diese letztendlich in das Desaster des Faschismus geführt hatten, in diesen Romanen schlug Graf mit seinem épater le Bourgeois den saturierten Gralshütern des Kommunismus, der Religion und der monothematischen Staatslehre Mensuren, die ihm niemals verziehen wurden. Graf blieb sich treu und fristete in New York über Jahrzehnte ein Dasein jenseits des Rampenlichts und Wohlstands.
In seinem über einhundert Seiten langen Essay “Der Moralist als Wurzel der Diktatur. Eine geistespolitische Betrachtung”, den er zwischen September und Weihnachten 1951 in New York verfasst hatte, zog er, der Erzähler, in einem ihm fremden Genre Bilanz. Was er dabei zustande brachte, hat nicht nur in der Retrospektive eine markante Bedeutung, sondern gewinnt angesichts der abstrusen Logik der political correctness und der etablierten Denkfiguren politischer Diskurse unserer Tage eine brisante Aktualität.
Auch den Essay beginnt Graf mit der Schilderung von Begebenheiten, die er in verschiedenen Phasen der von ihm erlebten Zeitgeschichte immer wieder erleben musste: das Erheben des moralischen Zeigefingers, das Formulieren einer wertrationalen Apotheose (1), das Herausarbeiten einer ethisch puristischen Maxime und die gleichzeitige Diskriminierung derer, die der synthetischen Lehre in ihrer Lebenspraxis nicht folgten.
Oskar Maria Graf enthüllt die scheinbar moralische Attitüde der reinen Lehre, weil sie selbst diejenigen, die sie fordern und entwickeln, von der Verantwortung der Aufklärung befreit. Ein Mensch, der frei sein will, ein Mensch, der dieses nicht auf Kosten anderer erreichen will, dieser Mensch hat die Aufgabe, sich selbst zu verantworten, diszipliniert und konsequent zu sein.
Wie bei Sartres “Das Sein und das Nichts” definiert Graf das Sein als etwas zu Leistendes und die Propheten der reinen Lehre, die selbst weit von einem Vorbild des verantwortungsvollen Seins entfernt sind, die demaskiert er als die eigentlichen Obskurantisten. (2) Ihr Wirken ist der Keim diktatorischer Fantasien, denen die Reglementierung der Individuen nach den normativen Werten einer Lehre widerfahren soll, die keiner bereit ist, zu leben.
Das Fazit aus der großen Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts ist für Graf so einfach wie bestechend. Er bringt das einzelne Individuum erneut in die Verantwortung. Dadurch versucht er, die große Idee der Aufklärung zu vitalisieren, dass es das Werk des Einzelnen ist, die selbst verschuldete Unmündigkeit abzuschütteln. Und all jene, die so liebreizend locken mit der moralischen Unversehrtheit, die letztendlich ein Staat oder sonstiges repressives Gebilde garantieren soll, denen weist er bestechend einfach nach, dass sie es sind, die den Diktaturen das Wort reden.
– 11. Januar 2009
Quellen und Anmerkungen
(1) Die Vergötterung oder Verherrlichung eines (sterblichen) Menschen zum Gott oder Halbgott wird als Apotheose bezeichnet. Im Altertum war es durchaus üblich, lebende Herrscher zu Gottheiten zu erklären, wodurch teilweise die (rechtmäßige) Herrschaft legitimiert wurde.
(2) Der Begriff Obskurantismus meint das Bestreben, Menschen bewusst in Unwissenheit zu halten, ihr selbstständiges Denken zu verhindern und sie an Übernatürliches glauben zu lassen.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.