Wolfgang Bittner hat sich das Privileg erworben, das bei der Nennung seines Namens immer wieder die Aussage zu hören ist “Nicht meine Quelle”. Damit ist auch ein Debakel unserer Tage offensichtlich. Wir befinden uns nicht selten in einem Lager, dass sich nur mit Argumenten und Ansichten derer füttert, die in das eigene mentale Setting passen. Dass es sich dabei um eine grundsätzlich problematische Einstellung handelt, ist vielen nicht mehr bewusst.
Nur wenn ich die Sichtweise meines Gegenübers kenne, bin ich in der Lage, aus meinem eigenen Wahrnehmungsorkus herauszutreten. Mit seiner jüngsten Publikation “Ausnahmezustand. Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts” hat der Autor Wolfgang Bittner seine eigene Beurteilung der sich täglichen zuspitzenden Lage öffentlich gemacht.
Für diejenigen, die ihr eigenes, feststehendes, in einen betonierten Kompass eingebettetes Weltbild pflegen und nicht mit der schweigenden Mehrheit kollidieren wollen, ist dieses Buch nicht geeignet.
Bittner beginnt seine Illustration mit einer weltpolitischen Betrachtung, in der er zu der Auffassung gelangt, dass die Zeit einer einseitig durch die USA ausgeübten Hegemonie zu Ende ist und wir uns aufgrund dessen in einer Epoche der Neujustierung und Ordnungsfindung befinden. Dagegen stehen die starren Modelle der untergehenden Dominanz. Vor allem das Diktum, dass die amerikanische Vorherrschaft nur dann gewährleistet werden kann, wenn in Europa ein Keil zwischen Russland und Deutschland getrieben werden kann.
Umso verheerender ist aus Sicht des Autors auf die Rolle, die Deutschland im Ukraine-Konflikt eingenommen hat. Anstatt sich an eigenen Interessen zu orientieren, hat sich die deutsche Politik dafür entschieden, als Speerspitze US-amerikanischer geopolitischer Interessen zu fungieren. Die Zerstörung der eigenen Position ist bereits auf den Feldern der Außenpolitik wie der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung offensichtlich.
Ausführlich widmet sich Bittner der Widerlegung des täglich auf allen Ebenen unzählige Male wiederholten “Narrativs”, bei dem Ukraine-Krieg handele es sich um einen völlig überraschenden, durch nichts provozierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands, der nur als eine Vorstufe weiterer Ansprüche des russischen Imperialismus gewertet werden kann.
Die Aufzählung einer von langer Hand geplanten und durchgeführten Eskalation seitens des Konsortiums USA/NATO/EU nimmt in dem Buch großen Raum ein und liefert wichtige Fakten, die der ideologisch motivierten Vereinfachung der herrschenden Erzählung entgegenstehen.
Dass die einseitige, die Aggressivität des eigenen Handelns ausblendende Darstellung einer komplexeren Realität nicht ohne Widerspruch stattfinden kann, wird an einer Reihe von Beispielen illustriert. Besonders demaskierend sind auf der einen Seite die drastischen Verfolgungen von unterschiedlichen Auffassungen und Meinungen und auf der anderen Seite die devote Blindheit gegenüber Hass, Rassismus und Faschismus aus ukrainischen Mündern. Logisch, dass Bittner zu der Schlussfolgerung kommt, dass der eingeschlagene Weg seitens der Bundesregierung zu keinem guten Ende führen wird.
Lesenswert ist zudem ein 80 Seiten umfassender Anhang mit Dokumenten, die in der herrschenden Darstellung der gegenwärtigen Konflikte keine Rolle spielen. Dazu gehören Reden von Wladimir Putin und Sergei Lawrow, die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022, die Rede von Joe Biden in Warschau und der neue “Krefelder Appell”. Die Lektüre macht die Situation nicht besser, aber verständlicher.
Es ist müßig, jenen, die aus der deutschen Geschichte nichts gelernt haben, diese Lektüre zu empfehlen. Allen anderen schon. Und vor allem denjenigen, die sich für die Kehrseite der Medaille interessieren.

Informationen zum Buch
Ausnahmezustand
Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts
Autor: Wolfgang Bittner
Genre: Sachbuch
Sprache: Deutsch
Seiten: 288
Erscheinung: Januar 2023 (2. Auflage März 2023)
Verlag: zeitgeist Verlag
ISBN: 978-3-943007-47-3
Über den Autor
Wolfgang Bittner (Jahrgang 1941) ist Schriftsteller und Publizist. Er studierte in Göttingen und München Rechtswissenschaft, Soziologie und Philosophie. Er war freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen und von 1996 bis 1998 im Rundfunkrat des WDR.
Von 1997 bis 2001 war er im Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller. Zwischen 2004 und 2006 hatte er Gastprofessuren in Polen inne. Bittner, der über 70 Bücher veröffentlichte, publizierte seinen Debütroman “Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben” 1978.
Zu seinen bekanntesten Sachbüchern gehören die Titel “Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise” (2019) und “Deutschland – verraten und verkauft” (2021) sowie der Roman “Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen” (2019). Außerdem verfasste er zahlreiche Kinder- und Jugendbücher und Theaterstücke wie zum Beispiel “Kaffeestreik” (1987), “Das Gerücht” (1988) und “Wie das Feuer zu den Menschen kam” (1996).

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Fotos und Video: Lux Interaction (Unsplash.com), zeitgeist Verlag und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.