Gelegentlich überfällt mich eine unbändige Lust zu schreiben, ich weiß häufig nur nicht was. Aber anstatt meine Zeit mit Überlegungen zu befrachten, wie ich den Anfang eines Artikels gestalten möchte, der, grob gesagt, von der Liebe handeln soll, habe ich mir angewöhnt, einfach drauf los zu fabulieren. Dies hier ist ein gutes Beispiel dafür.
Kennt ihr den Begriff des inspirierten Schreibens? Es setzt ein, wenn man seinen Fingern auf der Tastatur freien Lauf lässt und den Gedanken verbietet, sich einzumischen.
Die Ergebnisse sind zunächst schrecklich. Ein Mischmasch aus zusammengekritzelten Impressionen, ohne jeden Zusammenhang. Und mit jeder Menge Tippfehlern behaftet, unter denen, oh Wunder, gelegentlich fantastische Wortkreaturen entstehen. Wichtig dabei ist, dass man seine Finger keine Sekunde von der Tastatur nimmt, sie sozusagen als Tranceläufer auf die Reise schickt. Und dann, nach einer gewissen Zeit, tritt eine Muse aus dem Wald. Ihr Lächeln beflügelt und lässt die ersten stimmigen Sätze entstehen.
Der Schreibknecht und die Tätowierung
Es ist mir schon des Öfteren passiert, dass ich auf dem Klang, der Harmonie und dem Temperament meiner eigenen Worte in Verzückung geriet. Weil ich wusste, dass diese Worte nicht von mir waren und ich mich plötzlich verbunden fühlte.
Das wohl bekannteste Beispiel für die Macht und Schönheit des inspirierten Schreibens ist Jakob Lorbeer (1800 bis 1864), der sich als “Schreibknecht Gottes” bezeichnete. (1)
Lorbeer hörte am 15. März 1840 links in seiner Brust deutlich eine Stimme. Diese Stimme befahl: “Steh auf, nimm deinen Griffel und schreibe!” Gehorsam schrieb der fromme Geiger den ersten Satz seines Werkes “Die Haushaltung Gottes”. Es handelt sich um eine ausführliche Version der biblischen Urgeschichte bis zur Sintflut, die “der Herr” selbst gab, der ihn laut Lorbeer als “meinen schwachen Geheimschreiber meines neuen Wortes” bezeichnete.

Es klingelt. Der Briefträger reicht mir eine Büchersendung, die ich selbst bestellt hatte. Es handelt sich um meine Maeva-Trilogie, die ich einer Freundin zum Geschenk machen will. Ich blättere in “Feuer am Fuss“, dem dritten Band der Trilogie, und stoße auf eine Passage, von der ich mich tief beeindruckt zeige. Sie erscheint mir neu und frisch und es fällt mir schwer, mich als ihr Autor zu verorten. Diese Sätze haben sich aus meinem Gedächtnis gestohlen und eine eigene Autorität gewonnen. Sie ziehen federleicht vorüber und ich sehe ihnen staunend dabei zu:
(…) Ehawee stieg aus, reichte Cording die Hand und ging mit ihm einige Schritte in den Wald.
“Schau auf die Blätter, schau auf die Gräser. Sie bewegen sich im Wind, sie tanzen nach seiner Pfeife. Und jetzt schau dir den Wind an. Kannst du ihn sehen? Du musst dich von den Pflanzen leiten lassen, sie tun nur, was der Wind ihnen befiehlt. Siehst du ihn jetzt? Man kann ihn sehen. Er ist es doch, der die Bewegungen formt. Man kann ihn sogar streicheln. Wenn er mit unserem Haar spielt, uns ins Gesicht peitscht oder zärtlich über die Arme fährt, dann können wir ihn sehen, am besten bei geschlossenen Augen. Der Wind ist wunderbar”, sagte sie und drückte erschrocken den Rock gegen ihre Beine, der sich unter einer Bö aufgebläht hatte.
Cording registrierte, dass sie kurz errötete. Als sie wieder im Auto saßen, sagte sie einen Satz, den er sich am liebsten aufs Herz tätowiert hätte:
“Nur jemand, der weiß, was Schönheit ist, blickt den Wind, die Bäume, die Sterne oder das funkelnde Wasser eines Flusses mit völliger Hingabe an, und wenn wir wirklich sehen, befinden wir uns im Zustand der Liebe”.
Den Rest der Strecke schwiegen sie.
Schön. Sehr schön. Mit dem inspirierten Schreiben ist erst einmal Schluss für heute. Zu gewaltig steht diese “Tätowierung” im Raum.
Den Schmutz von der Seele waschen
Der US-amerikanische Umweltaktivist und Autor Derrick Jensen (“Endgame”) hat es auf den Punkt gebracht:
“Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass unsere Zivilisation nur Wälder kahl schlägt. Sie tut dasselbe mit unserer Psyche. Es wäre verfehlt zu glauben, dass sie nur Flüsse mit Dämmen verbaut. Sie errichtet auch in uns Dämme. Es wäre verfehlt zu glauben, dass sie nur in den Meeren tote Zonen erzeugt. Sie schafft tote Zonen in unseren Herzen und in unseren Köpfen. Es wäre verfehlt zu glauben, sie würde nur Habitate zerstückeln. Auch wir werden zerstückelt, zertrennt, zerfetzt, zerrissen und zermalmt“.
Was heißt das? Das heißt, dass wir uns den Schmutz von der Seele waschen müssen, den wir in dieser ruhig gestellten Gesellschaft angesammelt haben. Entwickeln wir Respekt für unsere Mitbewohner auf der Erde. Öffnen wir unsere Herzen für das Mysterium der Schöpfung, dem wir auf kurze Zeit beiwohnen dürfen und von dem die Betreiber des seelenlosen Killer-Systems nicht die geringste Ahnung haben.
Die Pflanze und ich
Ich latsche durch meine Wohnung, das tue ich immer, wenn ich meine Gedanken und Gefühle sortiere. Dabei streichle ich die Palme, die mir vor acht Jahren als “Wohnungswächter” geschenkt wurde. Damals war die Yucca fünfzig Zentimeter hoch, inzwischen greift sie nach der Decke. Ihr stetiges Wachstum war mir zu keiner Zeit bewusst geworden. Die Palme war immer nur so groß, wie ich sie gerade vorfand.
Angenommen, wir hätten sie über acht Jahre mit statischer Kamera gefilmt, dann stünden jetzt 70.000 Stunden Film zur Verfügung. Aufschluss über ihr Wachstum gäbe das Material nicht. Eine Menge anderer Dinge würden wir in der Wiederholung sehen, mich zum Beispiel.
Ich würde ständig durchs Bild laufen, ich wohnte ja hier. Wir würden mich essen, arbeiten, trinken und huren sehen, eins zu eins, aber das Wachstum der Palme bekämen wir nicht zu Gesicht. Dazu müssten wir die acht Jahre durch den Zeitraffer jagen. Erst wenn wir sie zu einer Stunde verdichteten, könnten wir den Wohnungswächter sich entwickeln sehen. Das wäre dann immer noch ein bedächtiges Aufstehen. Zentimeter für Zentimeter würde die Pflanze ihre Kraft entfalten, während die reale Zeit zu einem nervösen Lichtgeflacker verkäme.
Von mir, der ich mit der Palme gelebt hatte, fehlte gar jede Spur. Meine Bewegungen wären nicht registriert. Sie wären allenfalls als dubioser Nebel erkennbar. Ich wäre ausgelöscht. Obwohl wir beide, die Pflanze und ich, zwei körperliche Wesen waren, obwohl wir beide zur selben Zeit am selben Ort existierten, wäre ich im Zeitraffer unsichtbar.
Für die Palme war ich eine Ahnung, ein Hauch, mehr nicht. Es gibt auch Menschen, die wir aufgrund ihrer andersgearteten Geschwindigkeit nicht zu erkennen vermögen, während sie ihrerseits ganz praktisch mit uns umgehen. Wir nennen sie Geister.
Quellen und Anmerkungen
(1) Jakob Lorber war Schriftsteller, Musiker und christlicher Mystiker. Nachdem Lorber am 15. März 1840 eine innere Stimme hörte, die ihn zum Schreiben aufforderte, kündigte er seinen Job und begann, Texte zu verfassen. Lorber, der sich selbst als “Schreibknecht Gottes” bezeichnete, schrieb rund 20.000 Manuskriptseiten nieder. Nach seinem Tod wurde teilweise versucht, sein Verhalten und Handeln psychologisch einzuordnen. Die offensichtliche Suche von Lorber nach spiritueller Orientierung wurde anfänglich aber ignoriert. Ihm wurde unter anderem eine psychische Störung (Schizophrenie) unterstellt, obgleich Menschen mit einer solchen psychotischen Störung zu Leistungen, wie sie von Lorber erbracht wurden, gar nicht in der Lage sind.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Dirk C. Fleck erscheint ebenfalls auf Apolut.net. Es wurde Neue Debatte vom Autor zur Veröffentlichung in einer aktualisierten Form zur Verfügung gestellt. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Fotos, Links sowie Anmerkungen ergänzt.

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Foto: Samuel Regan-Asante (Unsplash.com) und Neu Salems Verlag (Aufnahme von vermutlich 1931; gemeinfrei)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).