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Philosophie

Als dem lieben Gott die Hutschnur riss

Worin besteht der Sinn des Lebens? Vielleicht darin, das eigene Ego zu zertrümmern und zu verstehen, was Liebe ist. Denn Liebe ist der Feinstoff, der die Welt im Innersten zusammen hält.

Ich hatte einen Traum. Es war ein gespenstischer Traum. Ich selbst spielte in ihm keine Rolle. Ich nicht und andere Menschen auch nicht. Er war komplett menschenfrei, was merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass einem für gewöhnlich Legionen von Menschen in unseren Träumen begegnen.

Man findet sich beispielsweise in einer Stadt wieder: an Kreuzungen, in Fußgängerzonen, in Restaurants. Die Menschen haben klar erkennbare Gesichter, wie im richtigen Leben. Sie benehmen sich wie im richtigen Leben, jeder auf seine Art.

Wo kommen sie her?! Wir sind diesen Wesen nie zuvor begegnet. Oder doch? Nein, sind wir nicht. Nicht in diesem Leben. Also: Wo kommen sie her, die Traumfiguren in ihren Autos, im Kaufhaus, am Würstchenstand, die Paare und Passanten, die Gehetzten und Lachenden, die Bettler und die feinen Leute mit den Sektgläsern in der Hand, die einem sogar manchmal zuprosten? Keine Ahnung, aber jedes ihrer Gesichter ist bis ins Detail ausgeprägt.

Die Traumwelt präsentiert sich so vielschichtig und real, wie wir es auch im Wachzustand erleben. Aber die Frage bleibt: Wo kommen all die Menschen her, die als Statisten durch unsere Träume geistern?

Handelt es sich um Wesen, die vor uns hier zu Gast waren und nun anstehen, um wiedergeboren zu werden, damit sie ihre Lektion zu Ende lernen? Eine Lektion, die unterbrochen wurde durch Kriege und Krankheiten, durch Mord und Selbstmord oder weil einfach nur die Herzen im Überlebenskampf stumpf und empathielos geworden waren. Herzen, die den eigentlichen Sinn des Lebens nicht mehr begreifen und greifen konnten. Und dieser Sinn, daran glaube ich, besteht darin, das eigene Ego zu zertrümmern und zu verstehen, was Liebe ist.

Liebe – der Feinstoff, der die Welt im Innersten zusammen hält. Nur wer das verstanden hat, wird davon befreit, sich erneut in diesen gigantischen Wartesaal zu begeben, aus dem sich meine Traumfiguren rekrutieren. Das wäre eine Erklärung. Muss aber nicht so sein.

Um auf den eingangs erwähnten Traum zurückzukommen, in dem Menschen nicht vorkommen: Könnte es sich bei ihm um einen prophetischen Fingerzeig handeln, um eine Darreichung aus der Zukunft? Einer Zukunft, in der die Erde von einer kurzfristigen Krankheit genesen ist, die sie fast das Leben gekostet hätte? In der sie wieder frei durchatmet, nachdem der Mensch von der Evolution in die Tonne getreten wurde, um das kleine, aber kostbare Gaia-Experiment auf diesem Miniplaneten nicht zu gefährden?

Als rund um den Globus die Atompilze zu sprießen begannen, als die künstliche Intelligenz aus dem Ruder lief und der Tiefseebergbau die Unterwasserwelt als letzte Bastion des irdischen Paradieses vollständig zu vernichten drohte, ist dem Allmächtigen wohl die Hutschnur gerissen. Die kleine Korrektur muss ihm das Herz gebrochen haben, denn der Herr ist Romantiker, keine Frage.

Schließlich stattete er das menschliche Herz mit einer süßen Sehnsucht aus, die wir in Schriften, Bildern und Skulpturen, im Tanz, ja selbst in den besten Zeugnissen der Architektur seit Jahrhunderten zum Ausdruck brachten. Es war die immerwährende Sehnsucht nach Frieden und Harmonie, nach Einklang – nach dem einen Klang.

Alice Phoebe Lou auf dem Rudolstadt-Festival 2019. (Foto: Schorle, CC BY-SA 4.0)
Alice Phoebe Lou auf dem Rudolstadt-Festival 2019. (Foto: Schorle, CC BY-SA 4.0)

Warum dann alle Kunst, alle Literatur, alle Musik, alle Malerei, alle positiv geladenen Fantasien, mit denen der Mensch dieser Sehnsucht unsterblichen Ausdruck verlieh, letztlich unter einem Berg von Scheiße begraben wurden, wie Michael C. Ruppert (1) sagt, war nicht vorgesehen. Es war ein Kunstfehler. Wie soll man es sonst deuten?

Ist der Umstand, dass ich einen Traum träumen durfte, in dem Menschen nicht mehr vorkommen, nun der Tatsache geschuldet, dass wir aufgrund unseres unerträglichen Zerstörungswerks an der Erde einfach nur von diesem Planeten verbannt wurden?

Es könnte aber auch sein, dass wir nicht mehr gebraucht wurden, weil wir die uns aufgetragene Aufgabe pflichtbewusst erfüllt hatten.

Diese Aufgabe hieß dann wohl: haut das filigrane Netzwerk auf dem blauen Planeten in tausend Stücke, damit ich mir neue Bahnen suchen kann, denn ich, die Evolution, spiele und experimentiere gern. Man weiß es nicht. Wie auch immer. Es ist müßig, darüber zu spekulieren.

Dass immer mehr Menschen mulmig zumute wird, wenn sie daran denken, was der flächendeckende Verlust an Empathie in Verbindung mit dem nicht zu bremsenden Treiben unserer Polit-, Wissenschafts- und Wirtschaftsgangster noch alles anzurichten vermag, zeigt sich in den Tränen jener, die noch die oben erwähnte Sehnsucht im Herzen tragen. Wie die in Berlin lebende südafrikanische Sängerin Alice Phoebe Lou (2), deren Song “She” ich gerade auf YouTube entdeckte.

she cut a hole in the fence and she ran

she left her troublesome prison behind

she didn’t wanna fuel the fire

she didn’t wanna lose her desire

she looked out to the horizon

she didn’t have much left to see

greed had taken the trees away

greed had taken the bees away

she don’t know where she’s gonna go now

she looked up to where there should have been stars

she said I wanna go to mars

and this, this planet ain’t ours

— Alice Phoebe Lou

Alice Phoebe Lou – She (Live) Quelle: Alice Phoebe Lou/YouTube

Quellen und Anmerkungen

(1) Michael C. Ruppert (1951 bis 2014) war ein US-amerikanischer Autor, Journalist und Gründer sowie Chefredakteur der Webpräsenz “From The Wilderness”. Die Internetseite beschäftigte sich inhaltlich vor allem mit der journalistischen Aufdeckung von staatlichen verdeckten Operationen und der Hintergrundanalyse politischer Ereignisse. Ruppert war ursprünglich Drogenermittler bei der Polizei von Los Angeles. Im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Rolle des Auslandsgeheimdienstes CIA im Drogenhandel, der vor allem in den amerikanischen Großstädten katastrophale Folgen hatte, und den möglichen Verwicklungen des US-Militärs, aber auch der Polizei, schied er Ende 1978 aus dem Polizeidienst aus.

Der Journalist Gary Stephen Webb (1955 bis 2004) beschrieb 1996 in seiner Artikelserie “Dark Alliance” (siehe: https://www.narconews.com/darkalliance/drugs/start.htm) die Verbindungen des CIA zum organisierten Drogenhandel. Webb verlor in der Folge nicht nur seinen Job, sondern konnte beruflich nie wieder Fuß fassen (Kalte Hinrichtung). 2004 soll er sich das Leben genommen haben, in dem er sich zweimal in den Kopf schoss.

Michael C. Ruppert, der sich bedroht fühlte, nahm sich 2014 das Leben. Mehr Informationen auf http://www.broeckers.com/2014/04/15/r-i-p-michael-c-ruppert/ (alle Links Abgerufen am 1.4.2023).

(2) Alice Phoebe Lou (Jahrgang 1993) ist eine südafrikanische Singer-Songwriterin. Seit 2013 lebt sie in Berlin (Neukölln), wo sie vor allem als Straßenmusikerin auftritt. Lou, die sich gegen die Kommerzialisierung ihrer Musik ausspricht, lehnte Angebote namhafter Plattenfirmen ab.

Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Als dem lieben Gott die Hutschnur riss” von Dirk C. Fleck wurde für Apolut.net verfasst und erscheint auf Neue Debatte in einer aktualisierten Form. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Links und Anmerkungen ergänzt.

San Francisco 2018. (Foto: Cristofer Maximilian, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

Fotos und Video: Katie Rae (Unsplash.com), Schorle (Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=80453205) und Alice Phoebe Lou (YouTube)

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Von Dirk C. Fleck

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

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