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Rezension

Brisant und aktuell: Geschlossene Gesellschaft

Es gehört zu den Usancen einer vermeintlich fortschrittlich gesinnten und aufgeklärten Zeit, die ihr vorhergegangenen Etappen der Aufklärung etwas herablassend zu betrachten und mit leicht arrogantem Ton die noch vorhandenen Unzulänglichkeiten zu bemängeln.

Es gehört zu den Usancen einer vermeintlich fortschrittlich gesinnten und aufgeklärten Zeit, die ihr vorhergegangenen Etappen der Aufklärung etwas herablassend zu betrachten und mit leicht arrogantem Ton die noch vorhandenen Unzulänglichkeiten zu bemängeln.

Die Haltung ist verbreiteter denn je. Und das mag damit zusammenhängen, dass das Heute weiter von einer aufgeklärten Gesellschaft entfernt ist als alles, was jemals auf diesen Zustand hinarbeitete.

Bei dem Besuch einer Premiere von Sartres “Geschlossene Gesellschaft” (1) kam mir genau diese Paradoxie in den Sinn. Ein epistemologisch glattgebügeltes Publikum sah sich mit einem Stück konfrontiert, dass 1944 in Paris uraufgeführt wurde und zu den essenziellen Beiträgen des Existenzialismus (2) auf der Bühne gehört.

Die Höllenmetapher

Die Nachbetrachtung bei Champagner und Fleischkäsebrötchen, man befand sich in Deutschlands Südwesten, förderte einiges zutage: Die Fähigkeit, das Stück zu lesen, ist längst nicht erloschen, obwohl bei manchem der Drang zum schnellen Urteil das Denken etwas blockierte, und die Aktualität der Höllenmetapher für das soziale Miteinander ist unübertroffen. Sartre stellte in dem Einakter drei Individuen auf die Bühne, die von einem Kellner in ein Etablissement geleitet wurden, das sich als Hölle herausstellte. Keine Unterbrechung durch Dunkelheit, kein Entkommen. Die Vorstellung der Unsterblichkeit als Dystopie.

Die Dialoge der drei Personen, zwei Frauen und ein Mann, drehen sich um das Selbstbild und kollidieren prompt mit dem Fremdbild. Es stellt sich schnell heraus, wie sehr die Lebenslüge eskortiert wird von dem Selbstbetrug, der dem Erfolg bei Ausfüllung einer Rolle zugeschrieben wird, die allerdings dem eigenen Ich von außen aufgedrängt wird. Der Selbstbetrug ist somit die erste Stufe des Unglücks. Es ist ein langer, gewundener Weg zur Freiheit, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und den eigenen Weg zu gehen, der durchaus mit der gesellschaftlich zugedachten Rolle kollidieren kann. In “Geschlossene Gesellschaft” gelingt das nicht. Das ist der Grund, warum die menschliche Gemeinschaft so gut mit der Metapher der Hölle beschrieben werden kann.

Jean-Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft (Quelle: YouTube/Gerhard Mersmann)

In dem zeitgleich entstandenen Essay “Das Sein und das Nichts”, Sartres philosophischem Hauptwerk, wird der konzeptionelle Ansatz verdeutlicht. “Die Existenz geht der Essenz voraus”, heißt es da. Das, was der Mensch aus seinem Leben macht, wiegt mehr als das, was ihm von der Natur und den sozialen Umständen vorgegeben wird.

Die Existenz, so Sartre, ist etwas zu Leistendes. Ein Satz, der der Ideologie des heutigen woken Sektierertums gleich einem Beben den Boden entzieht. Und Sartre ging noch weiter: “Der Mensch ist nicht nur verantwortlich für seine Individualität, sondern für alle Menschen.” Damit ist sein massives politisches Engagement erklärt, das er zeit seines Lebens an den Tag gelegt hat. Seine politischen Schriften sind genauso lesenswert wie seine Theaterstücke oder seine philosophischen Essays.

Geschlossene Gesellschaft als Hölle

Die “Geschlossene Gesellschaft” ist nicht nur ein Schlüssel zu seinem Verständnis, sondern auch ein wunderbares Abbild unserer heutigen, in die komplexe Fremdbestimmung zurückgefallene Gesellschaft. Das Stück beschreibt nicht nur die Irritationen, die durch die Diskrepanz von Fremd- und Selbstbild entstehen, sondern sie öffnet bereits eine Tür, die auf den Korridor der eigenen Verantwortung hinweist. Die “Geschlossene Gesellschaft”, von Sartre mit der Metapher der Hölle illustriert, passt aus meiner Sicht auch als Titel des heutigen Zustands. Brisanter und aktueller geht es nicht!

Der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre. (Foto: Moshe Milner, CC BY 3.0)
Der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre. (Foto: Moshe Milner, CC BY 3.0)

Informationen zum Buch

Geschlossene Gesellschaft

Originaltitel: Huis clos

Autor: Jean-Paul Sartre

Genre: Drama

Sprache: Deutsch

Seiten: 80

Erscheinung: 1987

Verlag: Rowohlt

ISBN: 978-3-499-15769-1

Quellen und Anmerkungen

(1) Jean-Paul Sartre (1905 bis 1980) war Romancier, Dramatiker, Philosoph, Religionskritiker und Publizist. Er gilt als Vordenker und Hauptvertreter des Existentialismus. Sartre, langjähriger Partner der Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir, war einer der wichtigsten französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Sartres Drama “Geschlossene Gesellschaft” (frz. Huis clos) erschient 1944 in der Zeitschrift L’Arbalète. Ende Mai 1944 wurde es am Théâtre du Vieux-Colombier in Paris uraufgeführt.

(2) Als Existenzialismus wird die überwiegend französische philosophische Strömung der Existenzphilosophie bezeichnet. Hauptvertreter sind Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus. Der Begriff steht auch für eine allgemeine Geisteshaltung, die den Menschen als Existenz im Sinne der Existenzphilosophie auffasst. Durch die Bestimmung des Menschen als biologisches Wesen, als Vernunft­wesen, als göttliches Wesen usw. erhält der Mensch vor seiner Existenz schon eine Bedeutung (also biologisch, vernünftig, gottähnlich). Der Existenzialismus kritisiert diese der Existenz vorgängige Sinnbestimmung und setzt ihr die Existenz entgegen: Der Mensch ist als Mensch nicht zu erfassen, wenn nicht je von seiner eigenen individuellen Existenz ausgegangen wird. Jede Wesensbestimmung enthält immer schon einen Theorieaspekt, der sich nicht aus einer unmittelbaren Erfahrung der Existenz speist, sondern in der Existenz nachrangig gebildet wird.

San Francisco 2018. (Foto: Cristofer Maximilian, Unsplash.com)

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Fotos und Video: Oktavianus Mulyadi (Unsplash.com), Government Press Office (https://www.flickr.com/people/69061470@N05https://www.flickr.com/photos/government_press_office/6470403371/, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37461801) und Gerhard Mersmann

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Brisant und aktuell: Geschlossene Gesellschaft“

Brisant und aktuell: Geschlossene Gesellschaft
Es gehört zu den Usancen einer vermeintlich fortschrittlich gesinnten und aufgeklärten Zeit, die ihr vorhergegangenen Etappen der Aufklärung etwas herablassend zu betrachten und mit leicht arrogantem Ton die noch vorhandenen Unzulänglichkeiten zu bemängeln.

Beitragsautor
Von Gerhard Mersmann

Hier dazu meine Gedanken:

Die menschliche Gesellschaft verändert sich im Wesentlichen durch die politisch organisierte Tätigkeit der Menschen. Damit sich dies mit wachsender Progression zur ständig besser möglichen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und gewollt bestimmungsgerechtem Bewahren der Wirklichkeit entwickelt, muss der Mensch in gestalterischer Kreativität, neugierig suchend und eingreifend, nach der Erkenntnis von Wahrheit streben und seine ihm gegebenen Fähigkeiten und Möglichkeiten begreifen und ausbilden. Um wirtschaften zu können, muss sich jeder einzelne Mensch seiner Fähigkeiten bewusst werden, so dass er seinen Platz in der Wirklichkeit finden und hier seine eigenen Entwürfe bearbeiten kann.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich nahezu weltweit, anderes ausschließend und verdrängend, und scheinbar alternativlos die kapitalistische Wirtschaftsweise durchgesetzt. Bertold Brecht zeichnet in seinem „Galilei“ ein düsteres Zukunftsbild: „Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was zu entdecken ist, und euer Fortschreiten wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen Euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass Euer Jubelschrei mit einem Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.“ (Bertold Brecht – Leben des Galilei – Reclam Leipzig 1968)
Die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges und vor allem die Entwicklung der Atombombe bewogen Brecht auf den möglichen Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse aufmerksam zu machen. Der durch die Hochrüstungsprogramme von NATO- und Warschauer Pakt-Staaten verursachte universale Entsetzensschrei brachte eine starke internationale Friedensbewegung hervor, und mit dem Zusammenbruch des sogenannten realsozialistischen Weltsystems gab es einen gewissen Abbau hochkomplizierter und gefährlicher Waffensysteme. Aber immer noch werden neue Waffen entwickelt, produziert, und nachdem es das „Gleichgewicht des Schreckens“ nicht mehr gibt, zu egoistischen Zwecken, zur Durchsetzung von Interessen einzelner und zum Stimulieren von Entwicklungen in sich nicht konform verhaltenden Regionen eingesetzt.

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