Vor einem Konzert für Neue Musik gab ich an der Garderobe des Gewandhauses zu Leipzig meinen Mantel und mein Schaltuch ab. Ich suchte in meiner Handtasche nach der Eintrittskarte, als mir mein Unterbewusstsein signalisierte, dass die sehr junge Frau, welche eben nach dem Aufhänger meines Kleidungsstücks getastet, sich danach keinen Schritt von der Theke, die uns trennte und vor der ich als einziger Besucher stand, entfernt hatte.
Ich sah auf und blickte in geistig entrückte Augen. Die Nase der Garderobiere war zur Hälfte von meinem Schaltuch verdeckt. Sie nahm einen tiefen Zug. Mein entgeisterter oder auch faszinierter Blick holte sie in die uns geläufige Wirklichkeit zurück, und sie fühlte sich genötigt, eine Erklärung abzugeben.
Eine Erklärung wohlgemerkt – keine Rechtfertigung oder Bagatellisierung oder gar Lüge! Zutraulich gab sie preis, dass sie selbst und ihre Freundin immer – und hier stockte mir der Atem – IMMER an den Tüchern der Besucher schnüffele (für die Verwendung dieses Begriffes verbürge ich mich nicht; es kann auch sein, sie hat den neutralen “riechen” verwendet). Ihre Freundin erkenne jedes Parfüm, und diese Fähigkeit hätte sie auch gern.
“Und? Was ist es?”, war ich mäßig geistesgegenwärtig zu antworten fähig, noch bevor ich dieses Geständnis verdaut hatte. “Ich weiß nicht. Sagen Sie es mir?” Ich nannte ihr meine Parfümmarke. “Amarige de Givenchy”, wiederholte sie versonnen und etwas lautmalerisch. “Ja, das kommt mir bekannt vor. Ich werde meine Freundin danach fragen.”
Kam ihr der Geruch oder die Marke bekannt vor? Sind sie harmlose Gourmands oder – wie heute so viele Menschen – besessen von einer scheinbar individualitätstiftenden Leidenschaft? Sind sie für einen guten Duft zu töten bereit wie Jean-Baptiste Grenouille? (1) Wie vertrug sich ihre für unsere Zeit ungewöhnliche sinnliche Sensibilität mit der allüberall obwaltenden technischen Vermittlung? Sind sie in der Lage, ihren Maschinenpartnern Düfte mit Worten anschaulich (gewissermaßen “odeurable“) zu beschreiben, und bekommen sie entsprechende Message zurück?
Es hätte wirklich noch interessant werden können. Aber ich war zu verblüfft, zu entwaffnet auch, um mein Investigativbataillon aufmarschieren zu lassen. Wir wünschten uns gegenseitig einen schönen Abend.
Die Form war wiederhergestellt.
Quellen und Anmerkungen
(1) “Das Parfum” ist ein Roman des Schriftstellers Patrick Süskind aus dem Jahr 1985. Erzählt wird das Leben von Jean-Baptiste Grenouille (deutsch: “Frosch”). Er hat einen phänomenalen Geruchssinn, ist aber ohne jeden Eigengeruch auf die Welt kommt. In seiner Kindheit und Jugend ist Grenouille als Waise vielen Demütigungen ausgesetzt. Durch den Erwerb eines Gesellenbriefs emanzipiert er sich und lebt zunächst als Eremit. Als er seine Vision, der größte Parfumeur aller Zeiten zu werden, in die Tat umsetzt, wird er zum Mörder. Sein krönendes Parfum verschafft ihm scheinbar unbegrenzte Macht, führt ihn am Ende aber in die Desillusionierung und zum Scheitern.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Konvention – Eine Anekdote in Kleistscher Manier” von Beate Broßmann erschien erstmals bei Anbruch – Magazin für Kultur & Künftiges. Es wurde Neue Debatte von der Autorin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und erscheint in leicht aktualisierter Form. Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Quellen und Anmerkungen ergänzt.

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Foto: Önder Örtel (Unsplash.com)
Beate Broßmann (Jahrgang 1961) wurde in Leipzig geboren. Sie absolvierte erfolgreich ein Philosophie-Studium im Sinne von "Erkenntnisliebe". Vor der Wende in der DDR galt ihr Engagement demokratischen Reformen. Sie war später Mitglied der oppositionellen Vereinigung "Demokratischer Aufbruch". 2018 bis 2021 publizierte sie als Autorin auf "Anbruch". Seit 2020 veröffentlicht Beate Broßmann im Magazin TUMULT.