Vitaly Naumkin und Vasily Kuznetsov, die sich wissenschaftlich mit dem Nahen Osten auseinandersetzen, kommen im Vorwort ihres 27 Seiten starken Reports “Der Nahe Osten und die Zukunft einer polyzentrischen Welt” (Originaltitel: The Middle East and the Future of Polycentric World), der vom Valdai Discussion Club (1) veröffentlicht wurde, direkt zum Kern: Die alte Weltordnung existiert nicht mehr, was aus dem Nahen Osten wird, der nicht nur wegen dem Krieg in Syrien über Jahre im Blickfeld der Öffentlichkeit war, ist völlig offen.
Die Autoren schreiben, dass die Krisen des 21. Jahrhunderts, der bewaffnete Konflikt in der Ukraine, die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, die neue Rolle der Länder außerhalb des westlichen Bündnisses sowie die globale Nahrungsmittelkrise und die Umweltbedrohungen den langwierigen Zerfallsprozess des internationalen politischen Systems beschleunigt hätten. Es wäre aber (noch) nicht absehbar, was an seine Stelle treten werde.
Der Nahe Osten, ein jahrzehnlang Schauplatz gewaltsamer Umwälzungen, die die internationale Aufmerksamkeit auf sich zogen, wäre aus dem Fokus geraten.
“Auch wenn die Region immer noch existiert und ihre anhaltenden Krisen und Konflikte ungelöst geblieben sind und einige der Länder des Nahen Ostens sich auf der internationalen Bühne vehement Gehör verschaffen, erscheint die Zukunft des Nahen Ostens in der neuen Welt ungewiss.” (S. 3)
In ihrer Analyse versuchen Naumkin und Kuznetsov intraregionale und globale Faktoren zu skizzieren, die durch und auf den Nahen Osten wirken, und den Begriff Polyzentralität inhaltlich zu füllen, um eine Zukunftsperspektive für die Region aufzuzeigen. Sie beginnen mit einem Rückblick auf die ersten zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling. (2)
Entspannung mit Widersprüchen
Auf den Arabischen Frühling folgten die bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. Bürgerkriege in Syrien, Libyen und dem Jemen. Naumkin und Kuznetsov erinnern an die zahlreichen politischen Initiativen, die unternommen wurden, um die Konflikte beizulegen. Heute geraten sie in Vergessenheit.
“Die Situation hat sich jedoch geändert. Die Konflikte dauern dort an, aber sie haben ihre zentrale Rolle verloren. Auch die Bedeutung der Konfrontation zwischen internationalen Allianzen hat abgenommen. Scheinbar unüberwindbare Widersprüche zwischen Israel und den arabischen Ländern, Iran und Saudi-Arabien, der Türkei und Ägypten, Katar und anderen GCC-Ländern (Anm. d. Red.: Gulf Cooperation Council) usw. wurden in den letzten Jahren durch diplomatische Initiativen entschärft. Dies hat den Anschein erweckt, dass sich die Lage wieder normalisiert hat, aber ironischerweise hat dies nicht zur Bildung eines neuen Systems regionaler Beziehungen geführt.” (S. 4)
Die augenscheinliche Entspannung der politischen Beziehungen zum Beispiel zwischen dem Iran und Israel oder Algerien und Marokko, würden nur die widersprüchlichen intraregionalen Prozesse verschleiern. Diese seien aber geeignet, ein neues Ungleichgewicht in der Region hervorzurufen.
Die Effekte, so Naumkin und Kuznetsov, die sich auf die intraregionale Landschaft auswirken, würden sich mit Hilfe verschiedener Gegensatzpaare beschreiben lassen, die sich im Laufe der Zeit noch verstärken. Die Autoren benennen vier Dichotomien und eine Trichotomie:
- reiche und arme Nationen,
- Konflikte und Konfliktlösungen,
- Autoritarismus und Zivilgesellschaften,
- Gemeinsamkeit und Besonderheiten der Identität
- und drei Troikas von Führungsstaaten.
“Die vier genannten Dichotomien ermöglichen einen neuen Blick auf die regionale Führungsrolle. Jahrzehntelang gab es im Nahen Osten kein bedingungslos dominierendes Machtzentrum, sodass eine ganze Gruppe von Ländern diesen Platz für sich beanspruchte. Ihre Ansprüche wurden jedoch immer wieder von anderen infrage gestellt.” (S. 9)
Ägypten, Syrien, Irak
Ägypten, Syrien und der Irak gehörten zu diesen Ländern. Von den 1950er-Jahren bis in die 1990er spielten sie eine zentrale Rolle im regionalen Teilsystem. Ihr Aufstieg sei begünstigt worden durch die Fähigkeit, “ein nationales Entwicklungsprojekt zu entwickeln, das von der gesamten arabischen Welt als bedeutend angesehen wurde”.
Seit den 1980er-Jahren wäre die Führungsposition der drei Länder aber erodiert. Durch den Iran-Irak-Krieg (1980 bis 1988), das nachlassende außenpolitische Engagement Ägyptens und Syriens, das Fehlen eines neuen Projekts als Ersatz für die unattraktiven Ideen des arabischen Nationalismus und den Zweite Golfkrieg (1990 bis 1991) wäre ein Vakuum in der Region entstanden.
Iran, Israel, Türkei
Nach 2011 sei dieses Vakuum durch die zweite Gruppe der drei wichtigsten Länder gefüllt worden: Iran, Israel und die Türkei. Sie konnten dem Nahen Osten ein attraktives Bild einer starken Macht bieten, was zu einer neuen regionalen Architektur führte. Diese sei gekennzeichnet gewesen durch eine starke Peripherie und ein schwaches Zentrum, in dem “ein unvorstellbar harter Wettbewerb zwischen ihnen entstand (Konflikte in Syrien und im Irak)”.
Allerdings sei diese Troika in ihren regionalen Ambitionen gefesselt gewesen. Keines der Länder war arabisch, alle hatten geschichtlich eine problematische Beziehung zur arabischen Welt und innenpolitisch (im Falle der Türkei und des Iran) dominierten in den 2020er-Jahren wirtschaftliche Schwierigkeiten.
Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate
Mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar sei neues Trio in den Vordergrund getreten.
“Die drei arabischen Monarchien verfügen über finanzielle und wirtschaftliche Ressourcen, können ein attraktives Modell der nationalen Entwicklung anbieten und sind frei von der historischen Last des Kolonialismus und einigen soziopolitischen Herausforderungen. Heute versuchen sie, eine führende Position einzunehmen und damit die Region ein weiteres Mal neu zu gestalten.”
Insgesamt sei die Situation dennoch alarmierend: Der Nahe Osten sei überfüllt mit Widersprüchen, anhaltenden und potenziellen Krisen und Konflikten. Seine Zukunft wäre auch deshalb unklar, weil die Bildung einer neuen regionalen Führung eine weitere Umgestaltung des regionalen Subsystems nach sich ziehen würde.
Erdöl als Faktor
Die wichtigsten externen Faktoren, die mittelfristig eine Rolle spielen könnten, damit die Region in der internationalen Politik ihren Platz findet und eine neue Struktur entwickelt, seien in der Umgestaltung der Weltwirtschaft zu suchen.
Neue Gegebenheiten auf dem Öl- und Gasmarkt, der Lebensmittelversorgung und den Transport- und Versorgungslinien sind hier zu nennen.
Erdöl bleibt trotz aller Debatten über Klimaveränderungen und Nachhaltigkeit ein Machtfaktor. Die internationale Lage habe zu erheblichen Veränderungen auf dem globalen Öl- und Gasmarkt geführt. Die Position der OPEC habe sich verbessert, weil der politische Einfluss der wichtigsten Erdöl exportierenden Länder auf die Regulierung des globalen Öl- und Gasmarktes sich verstärkt hat.
Dies betrifft in erster Linie die Länder des Nahen Ostens, die in der OPEC eine führende Rolle spielen und ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt haben, dem politischen Druck der Vereinigten Staaten standzuhalten, die entgegen den Beschlüssen der OPEC auf einer Erhöhung der Ölförderung bestanden.
Vitaly Naumkin und Vasily Kuznetsov weisen daraufhin, dass nach Prognosen der weltweite Öl- und Gasverbrauch bis 2045 zunehmen wird. Der Anteil der OPEC an der weltweiten Ölversorgung wird von 33 Prozent im Jahr 2021 auf 39 Prozent im Jahr 2045 ansteigen. Was sich nach einer positiven Ausgangsposition anhört, um eine Stabilisierung des Nahen Ostens zu erreichen, trifft allerdings auf eine gewaltige Herausforderung: die Versorgung der wachsenden Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Diese Thematik wird im weiteren Verlauf des Reports erörtert, auch hinsichtlich der benötigten Infrastruktur, neuer Handels- und Transportwege und wirtschaftlicher Vereinbarungen mit Staaten wie Algerien und Russland.
Informationen zum Report
The Middle East and the Future of Polycentric World
Autoren: Vitaly Naumkin und Vasily Kuznetsov
Seiten: 27
Sprache: Englisch
Erscheinung: Februar 2023
Rechteinhaber: Stiftung für die Entwicklung und Unterstützung des Valdai Discussion Club
Link zur PDF: https://valdaiclub.com/files/40487/
Über die Autoren
Vitaly Naumkin (www.ivran.ru/naumkin-vitaly-v) promovierte an der Staatlichen Universität Moskau mit einer Dissertation über den mittelalterlichen islamischen Theologen Abu Hamid al-Ghazali. Er ist Professor und ordentliches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS), Präsident des Instituts für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften und Dekan des Fachbereichs Orientalistik der Staatlichen Akademie für Geisteswissenschaften.
Vasily Kuznetsov (https://valdaiclub.com/about/experts/319/) ist Direktor des Zentrums für Arabische und Islamische Forschung am Institut für Orientalische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau sowie Leiter des Instituts für Orientalische Studien an der Fakultät für Orientalische Studien der Staatlichen Akademischen Universität für Geisteswissenschaften.
Quellen und Anmerkungen
(1) Der Valdai Discussion Club wurde 2004 gegründet. Der Name leitet sich vom Valdai-See ab. Dieser befindet sich in der Nähe der russischen Stadt Veliky Novgorod (etwa 180 km südöstlich von Sankt Petersburg), wo das erste Treffen des Clubs stattfand.
Über 1000 Vertreter der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft aus 71 Ländern haben sich bisher an den Aktivitäten des Clubs beteiligt. Dazu gehören Professoren der wichtigsten Universitäten und Think Tanks der Welt: Harvard, Columbia, Georgetown, Stanford, Carleton Universities, University of London, Cairo University, University of Teheran, East China University, University of Tokyo, Tel Aviv University, University of Messina, Johns Hopkins University, London School of Economics, King’s College London, Sciences Po und die Sorbonne.
Im Jahr 2014 verlagerte der Valdai Club seine Aktivitäten. Vom Format “der Welt von Russland erzählen” wurde zur praktischen Seite gewechselt, um die globale Agenda zu gestalten. Man will qualifizierte und objektive Bewertungen globaler politischer und wirtschaftlicher Fragen liefern. Eines der Hauptziele des Valdai Discussion Club ist die Förderung des Dialogs zwischen der globalen intellektuellen Elite, um Lösungen zur Überwindung der Krisen des internationalen Systems zu finden.
Der Club arbeitet aktiv mit Meinungsbildnern aus verschiedenen Bereichen wie internationale Beziehungen, Weltpolitik, Wirtschaft, Sicherheit, Energie, Soziologie und Kommunikation zusammen. Zu den Autoren des Valdai Club zählen Wissenschaftler wie Hu Angang von der Tsinghua Universität in Peking, Politikanalysten wie zum beispielsweise Yukio Asazuma, stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Japanisch-Russische Beziehungen, der britische Politikberater und Gründer des ‘Good Country Index‘ Simon Anholt oder Finanzexperten wie Alexander Losev, Mitglied im Präsidium des 1992 gegründeten russischen Thinktanks SVOP (“Rat für Außen- und Verteidigungspolitik”) und früherer Generaldirektor von Sputnik Asset Management.
(2) Als Arabischer Frühling wird eine im Dezember 2010 beginnende Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt bezeichnet. Diese richteten sich gegen autoritär herrschende Regime und die politischen und sozialen Strukturen. Seinen Ausgangspunkt hatte der Arabische Frühling in Tunesien. Mohamed Bouazizi hatte sich in Sidi Bouzid aus Protest gegen Polizeigewalt und -willkür selbst angezündet. Es folgten Massenproteste gegen die Regierung von Staatsoberhaupt Zine el-Abidine Ben Ali. Die Unruhen, die auf Staaten in Nordafrika und dem Nahen Osten übergriffen, weiteten sich in Tunesien zu einer Revolution aus, die das mafiöse Regime beendete. Zine el-Abidine Ben Ali flüchtete nach Saudi-Arabien. Nur für einen Teil seiner Verbrechen wurde er in Tunesien in Abwesenheit verurteilt.
Foto und Abbildungen: Adil Riyami (Unsplash.com) und Valdai Discussion Club
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.