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Meinung

Kritische Infrastruktur: Die Widersprüche

Die gesprengten Gas-Pipelines Nord-Stream 1 und 2 haben bis heute keine Reaktion aus dem Bundeswirtschaftsministerium hervorgerufen. Warum nicht?

Das Kürzel KI steht im Bundeswirtschaftsministerium nicht für Künstliche Intelligenz, sondern für Kritische Infrastruktur. Dass die Handhabung letzterer nicht im entferntesten etwas mit Intelligenz zu tun hat, haben die letzten Tage wiederum gezeigt.

Dabei ist die EU-Definition der Kritischen Infrastruktur, die auch im Bundeswirtschaftsministerium vorliegt, logisch und nachvollziehbar. Demnach handelt es sich um

“(…) die in einem Mitgliedstaat gelegene Anlage, ein System oder ein Teil davon, die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen, der Gesundheit, der Sicherheit und des wirtschaftlichen oder sozialen Wohlergehens der Bevölkerung sind und deren Störung oder Zerstörung erhebliche Auswirkungen auf einen Mitgliedstaat hätte, da diese Funktionen nicht aufrechterhalten werden könnten”. (1)

Diese allen Bundesressorts vorliegende Definition ist, sofern man von einer verantwortungsvollen Sorge um das notwendige staatliche Handeln ausgeht, vernünftig. Dass der gegenwärtige Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, zudem Vizekanzler, eine eigentümliche Selektion der Aufgaben, die sich aus dieser Definition ergeben vornimmt, war nicht anders zu erwarten.

Hamburg, China und die Kritische Infrastruktur

So erfuhr die Öffentlichkeit aktuell von einer Notbremse, die aus dem Ministerium gezogen wurde, um das feindliche Eindringen der chinesischen Fracht- und Handelskompanie COSCO in den Hamburger Hafen zu verhindern (2, 3). Konkret geht es um eine geplante Minderheitsbeteiligung an einem Terminal.

So wie es aussieht, wäre dieser Umstand, der zum Beispiel in keiner Relation zu den weitgehenden Beteiligungen chinesischer Gesellschaften im Rotterdamer Hafen steht, aus Sicht des Wirtschaftsministers geeignet, um die öffentliche Sicherheit zu gefährden und andere dramatische Folgen hervorzurufen. Zudem hat die vor allem von den Grünen betriebene Frontstellung gegen die Volksrepublik China nichts mit negativen Erfahrungen in den bilateralen Beziehungen zu tun, sondern sie steht einzig und allein in ihrem von den USA ausgehändigten Pflichtenheft.

Die im September letzten Jahres gesprengten Gas-Pipelines Nord-Stream 1 und 2, die sowohl vom Investitionsvolumen als auch in Bezug auf den Verschluss von Energielieferungen ein gigantisches Ausmaß im Verhältnis zu dem einen Ladeterminal im Hamburger Hafen aufweisen, haben bis heute keine Reaktion aus dem Bundeswirtschaftsministerium hervorgerufen.

Nach allen Indizien die vorliegen, wäre dieser terroristische Akt auf die Kritische Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland allerdings geeignet, um das Lügengebäude einer überforderten und nicht im Interesse der Bevölkerung agierenden Bundesregierung in sich zusammenfallen zu lassen.

Käme heraus, dass es sich bei dem Terroranschlag um eine Aktion einer mit der Bundesrepublik innerhalb der NATO verbündeten Nation handelte, müsste der Bündnisfall innerhalb des Bündnisses ausgerufen werden. Wer etwas Fantasie besitzt, der möge sich den Gesichtsausdruck späterer Generationen vorstellen, die in den Geschichtsbüchern diese Ausgeburt von Irrsinn und Dekadenz lesen.

Für andere Interessen

Der aufmerksamen Presse und den viel gerühmten Journalen der öffentlich-rechtlichen Verschleierungsanstalten ist diese logische Inkongruenz nicht aufgefallen. Nicht eines dieser renommierten Organe hat bis jetzt mit der Idee kokettiert, dass staatliche Bestimmungen und Regeln generell zu handhaben sind, und nicht nach dem Gutdünken von Politikern, denen man, will man ihnen die allgemeine Zurechnungsfähigkeit unterstellen, im Auftrag anderer Interessen handeln als dem derer, von denen sie ihr Mandat erhalten haben.

Und ein Kanzler, diese Frage sei vor allem in diesem Punkt noch einmal dezidiert erlaubt, der doch so überzeugt formuliert hatte, wer bei ihm Führung bestelle, der erhalte sie auch (4), soll sich einen einzigen der Waschkörbe füllenden Briefe anschauen, die aus allen Ecken der Republik an ihn geschickt worden sind und in denen von ihm diese Führung verlangt wird. Oder hat er, wie so vieles andere, vergessen, wo die vielen Bestellungen für Führung hingelegt worden sind?

Quellen und Anmerkungen

(1) Europäische Union (Dokument 32008L0114): Richtlinie 2008/114/EG des Rates vom 8. Dezember 2008 über die Ermittlung und Ausweisung europäischer kritischer Infrastrukturen und die Bewertung der Notwendigkeit, ihren Schutz zu verbessern. Auf https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32008L0114 (abgerufen am 16.4.2023).

(2) COSCO war ursprünglich die Abkürzung der China Ocean Shipping Company, eine der weltweit größten international tätigen Reedereien. Das Unternehmen war ein volkseigener Betrieb der Volksrepublik China und hatte seinen Sitz in Peking. Der europäische Hauptsitz von COSCO befand sich in Hamburg. 2016 fusionierten COSCO und die ebenfalls staatliche Reederei China Shipping Group zur China COSCO Shipping Corporation. Diese wird heute im Allgemeinen ebenfalls als COSCO bezeichnet.

(3) Zeit Online (13.4.2023): China warnt vor Politisierung des Einstiegs bei Hamburger Terminal. Auf https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-04/china-cosco-hamburger-hafen-terminal (abgerufen am 16.4.2023).

(4) Tagesspiegel (5.2.2011): “Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch”. Auf https://www.tagesspiegel.de/politik/wer-fuhrung-bestellt-der-kriegt-sie-auch-8095693.html (abgerufen am 16.4.2023).

San Francisco 2018. (Foto: Cristofer Maximilian, Unsplash.com)

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Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.

Foto: Eduard Delputte (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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