Kategorien
Rezension

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang

Wie aus einer anderen Welt erscheint die Erzählung “Ein ehrenhafter Abgang” des Franzosen Éric Vuillard. Er lässt das Debakel zweier Weltmächte in Indochina noch einmal Revue passieren.

Gerade heute, bei einer nicht endenden Abfolge von gravierenden Krisen, beklagen Historiker das Ausbleiben von zeitnahen Analysen dessen, was gerade geschehen ist. Kaum war die Bankenkrise vergangen, kamen die Flüchtlinge, kaum hatten diese ihre Ziele erreicht, folgte Corona. Dessen Management war noch in vollem Gange, als der desaströse Abzug des westlichen Militärs aus Afghanistan stattfand und noch während Tausende dort auf ihre Ausreise warteten, eskalierte der Krieg in der Ukraine.

Nicht nur Historiker, sondern die Bürgerinnen und Bürger hätten gerne mehr gewusst, mehr Analysen erlebt und aktiv an einem Lernprozess teilgenommen, der systematisch vermieden wird, um das Systemische der Malaise zu verdecken.

Wie aus einer anderen Welt erscheint da eine Erzählung des Franzosen Éric Vuillard über den Vietnamkrieg. Unter dem Titel “Ein ehrenhafter Abgang” lässt Vuillard das Debakel zweier Weltmächte in Indochina noch einmal Revue passieren. Das Gelungene, wenn nicht gar Einzigartige an dieser Erzählung ist die hohe sprachliche und literarische Qualität, die mit kalten Daten und Fakten jongliert.

Krieg in Indochina

Der Aufstand und der Befreiungskrieg der Vietnamesen, der noch unter der Kolonialmacht Frankreich begann und dann, als diese ihr Geschäft gemacht hatte, von den USA abgelöst wurde, hatte das Land 3,6 Millionen Tote gekostet, so viele wie Frankreich und Deutschland im Ersten Weltkrieg zusammen. Dieser Krieg, der viele der älteren Zeitgenossen politisch geprägt hat und von dem heute keiner mehr spricht, eignet sich als Studienobjekt aus der zeitlichen Ferne sehr gut, um diese Art des kolonialen und imperialistischen Krieges nachzuzeichnen.

Vuillard beschreibt mit sehr viel Ironie und feiner Feder die verschiedenen Kreise. Die politischen Auftraggeber, betuchte Leute aus dem 16. Pariser Arrondissement, die mit ihren Plantagen, Fabriken und Banken gleich zweimal an der Kolonisierung Vietnams verdient hatten. Einmal an der Ausplünderung der dortigen Ressourcen, und zum zweiten Mal durch einen Krieg, den sie begannen, obwohl sie wussten, dass er militärisch bereits verloren war. Vuillard beschreibt die verschiedenen Milieus, wie sie im Halbdunkel agieren und ihre Ränke schmieden. Und er zeichnet das polternde Auftreten der USA nach, die zunächst sogar den französischen Kolonialisten zwei Atombomben offerierten, um dem Spuk der nationalen Erhebung ein Ende zu machen.

Der Preis der anderen

Die Nachbetrachtung nach einem halben Jahrhundert macht deutlich, worum es bei diesem Krieg ging: Es ging um Rohstoffe und die Ausbeutung von Arbeitskräften. Es ging nie um Werte. Und als klar war, dass der Krieg nicht zu gewinnen, aber noch Geld zu verdienen war, warf man die Soldaten aus den eigenen Ländern ins Feuer, bis die Rendite stimmte. Und das Auftreten und Handeln sowohl der französischen Kolonialisten wie der amerikanischen Imperialisten hatte nichts mit einer wohl definierten Zivilisation zu tun. Schon früh hatte der damalige junge Hồ Chí Minh (1) in einem Interview mit Ossip Mandelstam bei dem Wort Zivilisation angeekelt das Gesicht verzogen.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang (Quelle: Gerhard Mersmann/YouTube)

Wohl nicht aus Zufall beendet Éric Vuillard seine Erzählung mit dem panischen Abzug der Fremdlinge im Mai 1975 aus Saigon. Wie sie alle auf dem Dach der amerikanischen Botschaft standen und noch in die Hubschrauber wollten. Die Bilder erinnern in nahezu magischer Weise an das, was noch vor kurzem in Afghanistan zu beobachten war. Die Bilder des Vietnamkrieges bleiben aktuell. Dass daraus die Mächtigen nichts lernen, ist logisch. Sie lernen bei diesen Szenarien, dass sie immer noch Geld verdienen, wenn man sie nicht daran hindert. Den Preis dafür zahlen sie nie.

Éric Vuillard. Ein ehrenhafter Abgang. Chapeau!

Informationen zum Buch

Ein ehrenhafter Abgang

Originaltitel: Une sortie honorable

Autor: Éric Vuillard

Übersetzung: Nicola Denis

Genre: Historischer Roman

Seiten: 139

Erscheinung: 2022 (2. Auflage)

Verlag: Matthes & Seitz Berlin

ISBN: 978-3-7518-0908-5

Über den Autor

Éric Vuillard (Jahrgang 1968) ist Autor und Filmemacher. Er studierte in Paris Jura, Politikwissenschaft, Philosophie, Anthropologie und Geschichte an der Hochschule École des hautes études en sciences sociales. 1999 veröffentlichte er seinen ersten Band mit Erzählungen. Er wurde unter anderem mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet, 2017 erhielt er für den Roman L’ordre du jour (dt.: Die Tagesordnung) den Prix Goncourt.

Der Filmemacher Éric Vuillard im Jahr 2014. (Foto: A. Savin, eigenes Werk, CC BY-SA 3.0)
Der Filmemacher Éric Vuillard im Jahr 2014. (Foto: A. Savin, eigenes Werk, CC BY-SA 3.0)

In dem Roman 14. Juli, auf Deutsch 2019 erschienen, thematisiert er den sognannten Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Bekanntheit erlangte er im deutschsprachigen Raum aber vor allem durch sein Werk La Bataille d’Occident. In Frankreich erschien das Buch 2012, in Deutschland wurde es 2014 unter dem Titel Ballade vom Abendland veröffentlicht. Éric Vuillard thematisiert darin den Ersten Weltkrieg und verbindet die Politik mit dem Elend und Sterben in den Schützengräben. In der 2022 publizierten Erzählung Une sortie honorable (dt.: Ein ehrenhafter Abgang) wendet sich Vuillard der Kolonialgeschichte Frankreichs in Indochina und dem Krieg in Vietnam zu.

Quellen und Anmerkungen

(1) Hồ Chí Minh (1890 bis 1969) war Revolutionär, kommunistischer Politiker, Premierminister (1945–1955) und Präsident (1945–1969) der Demokratischen Republik Vietnam. Nach mehreren Stationen im Ausland (darunter Paris und Moskau) gehörte Hồ Chí Minh 1930 in Hongkong zu den Gründern der Kommunistischen Partei Indochinas. Aus dieser ging später die Kommunistische Partei Vietnams hervor. 1941 wurde Hồ Chí Minh in Vietnam zum Anführer der neu gegründeten Việt Minh. Diese kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die japanischen Besatzer und die vichy-französische Kolonialmacht, die mit den Japanern kollaborierte. Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit am 2. September 1945 ging der Kampf um Vietnam weiter: erst im Indochinakrieg gegen Frankreich (1946–1954), dann im Vietnamkrieg (1955–1975) gegen die Truppen Südvietnams und die Streitkräfte der USA.

Fotos und Video: Nick Fewings (Unsplash.com), A. Savin (Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32766485), Warner Pathé (News – Public Domain https://archive.org/details/NewsMaga_4, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2109071), Stringer (AFP – http://www.ibtimes.co.uk/vietnam-celebrates-60th-anniversary-battle-dien-bien-phu-victory-1447556, Public Domain; https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=62057246), Vietnam People’s Army Museum (Public Domain) , Eddie Adams (Associated Press – BBC News, “Eddie Adams’ legendäres Foto aus dem Vietnamkrieg: Was danach geschah”. Ursprünglich veröffentlicht im Jahr 1968. Das Bild wurde so beschnitten, dass es den Teil wiedergibt, der 1968 in Zeitungen veröffentlicht wurde, PD-US, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=63690859) und Gerhard Mersmann

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang“

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
Wie aus einer anderen Welt erscheint die Erzählung “Ein ehrenhafter Abgang” des Franzosen Éric Vuillard. Er lässt das Debakel zweier Weltmächte in Indochina noch einmal Revue passieren.

Beitragsautor
Von Gerhard Mersmann

Hier dazu meine Gedanken:

Weder Hilflosigkeit und Angst oder Arroganz und Überheblichkeit Betroffener oder Machthabern, noch Interessen einzelner Staaten oder Wirtschaftsgemeinschaften sind die tiefgründigen Ursachen für den eskalierenden Verfall des Ökosystems Erde und der unser Mensch-Sein ausmachenden Werte. Sondern unsere Welt wird immer deutlicher von der allgemeinen Krise der kapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt. Akut äußert sich diese dadurch, dass sie in kurzer Zeit aufeinanderfolgend in vielen Varianten erscheint, wie Wirtschafts- und Finanzkrisen, Staatskrisen, Strukturkrisen, humanitäre Krisen, Terrorkrisen und auch der Corona-Krise oder der Krieg in der Ukraine. Seit dem Votum in Großbritannien für den Brexit kann die Krise, in der sich die Europäische Union nun schon seit einigen Jahren befindet, nicht mehr verdeckt werden. Das auf Sand gebaute Kartenhaus der neoliberalen Global-Player fällt zusammen und wir alle müssen uns darauf einstellen, dass nun die Bestien im Haifischbecken immer bösartiger werden. Aggressives Gegeneinander um geostrategische Einflusssphären, um Rohstoffe, Energiequellen, Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte endet immer mit Zerstörung und Krieg, wenn wir es weiterhin zulassen, dass der Wachstumsmoloch mit unserem Schweiß und Opferblut gefüttert wird.

Apropos “Gerade heute, bei einer nicht endenden Abfolge von gravierenden Krisen, beklagen Historiker das Ausbleiben von zeitnahen Analysen dessen, was gerade geschehen ist.”
Gestern habe ich (wieder einmal) einen Vortrag von Dr. Eugen Drewerman gehört. 90 min, ohne Manuskript, druckreif. Das erste mal habe ich Dr. Drewermann life im sog. “Friedenswinter” 2014/2915 von den Schloß Belevue in Berlin gehört. Sein Thema gestern in Malchow: “Der Weg zum Frieden: Die Bergpredigt”
Dr. Drewermann steht über den Religionen – über der Politik sowieso. Wer außer ihm kann die historischen Entwicklung bis zum heutigen Ukrainekrieg unter Nennung der Protagonisten, der Jahreszahlen und der Zusammenhänge in freier Rede vortragen? Ich bin schon lange aus der Kirche ausgetreten, trotzdem: Dass er alle Ereignisse auf eine falsche Auslegung der Worte Christi bezieht, hebt ihn von allen Rednern ab und stellt in auf die gleiche Stufe wie unsere großen deutschen Dichter. Hörenswert bleibt auch die Laudatio von Dr. Daniele Ganser, der nach Dr. Drewermann sprach. Eugen Drewermann hielt diese bewegende Rede am 8. Sept. 2017 in Kaiserslautern.

Wie ist Deine Meinung zum Thema?

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.