Seit langem kursiert das nicht zum Schweigen zu bringende Gerücht, dass Wladimir Iljitsch Lenin, der Machtmensch, Stratege und geniale Reduzierer von Komplexität einmal erklärt haben soll: Wann haben wir einen revolutionären Zustand? Dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen! (1) Und ob diese Kurzdefinition nun von Lenin daselbst gegeben wurde oder nicht, ist für die weitere Betrachtung unerheblich.
Tatsächlich nämlich ist die Kurzformel sicherlich eine sehr treffende Beschreibung für eine existenziell gesellschaftliche Krise.
Wenn die Herrschenden, Mächtigen und Funktionsträger mit ihrem Latein am Ende sind, muss das noch lange nicht heißen, dass sich etwas ändert. Denn die große Masse kann dennoch dumpf dem Niedergang zuschauen, ohne dass sie sich bequemen würde, das Vakuum, welches sich durch Unfähigkeit und Planlosigkeit auftut, mit Zorn und Unwillen zu füllen und nach Alternativen zu suchen. Und besonders der deutsche Michel ist seit jeher als Genosse Gleichmut und Bruder Wurstigkeit eine durchaus beständige Größe im Ablauf der Zeit.
Ist jedoch auch unten, dort, wo produziert und konsumiert wird und wo das Debakel in der Höhe seinen brutalen Niederschlag findet, ist dort der Wille angekommen, das Elend und die Demütigung nicht mehr hinzunehmen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Unfähigen zum Teufel gejagt werden und der Geist des Aufstands für eine lange Nacht den Thron besteigt. Dann herrschen für eine Weile die Sterne, und wer wach bleibt und nach ihnen greift, der findet sich im eben noch gehassten Oben wieder.

Dass wir, die reunierte Nation der Deutschen, in einer Phase weltweiter Finanzkrise und Neuordnung der Welt, immer deutlicher so regiert werden, dass die Beschreibung zuträfe, die oben könnten nicht mehr, muss nicht kontrovers diskutiert werden. Das schlichtweg Ideologische, Affirmative steht nur noch im Vordergrund, die Intelligenz befindet sich jedoch schon auf der Flucht und das Wohl der Regierten darbt schon lange im Exil. Es kann sich nur noch die Frage stellen, inwieweit es unten so aussieht, dass die Massen dort nicht mehr wollen.
Doch, damit wir nicht übermütig werden, dem ist nicht so. Denn die Empörung über das governmentale Desaster und die Chuzpe der Selbstbedienung wirkt nicht gegen das Sedativum, welches kalt berechnend gereicht wird in Form von Pendlerpauschalen und Abwrackprämien, deren wichtigste Nebenwirkung ein Delir ist, dass die Differenzierung zwischen Oben und Unten nicht mehr zulässt. Seit langem schon steht in der Anamnese, dass es Probleme beim Umgang von Statik und Dynamik gibt. Und jetzt noch das!
– 22. April 2009
Quellen und Anmerkungen
(1) Wladimir Iljitsch Lenin (1870 bis 1924) war marxistischer Theoretiker, russischer Politiker, kommunistischer Revolutionär und wesentlich an der Begründung der Sowjetunion beteiligt. Lenin war von 1903 bis 1924 Vorsitzender der Bolschewiki, ab 1917 Regierungschef der Russischen SFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) und später auch der Sowjetunion (1922–1924).
Foto: Vladimir Kudinov (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.