Vor vielen Jahren, als das Fotografieren noch half, unternahm ich ausgedehnte Spaziergänge auf dem Leipziger Südfriedhof. Er liegt am ehemaligen Stadtrand und ist als großzügig angelegter Park und Ort der Ruhe eine paradiesisch anmutende Parallelwelt. Von zwei Seiten begrenzt diese das alles überragende martialische Bauwerk zur Erinnerung an die Völkerschlacht 1813. (1)
Auch diese Trutzburg stellt eine Parallelwelt zur Stadt dar, freilich eine ganz anderen Charakters. Im Grunde stehen sich hier zwei Kulturen gegenüber, vielleicht sogar zwei unterschiedliche Formen – oder mindestens zwei Aspekte – von Zivilisation.
Der helle Naturstein, der den Anblick des Denkmals erträglicher macht, war seit Jahrzehnten grauschwarz verfärbt. Schon als Kind hatte ich Angst vor diesem Monstrum. Es erschien in meinen Träumen und wollte mich verschlingen, denn ich glaubte in ihm ein Gesicht zu erkennen, ein Gesicht von der Größe eines Gottes, und einen geöffneten Schlund, der die gefletschten Zähne des Untiers freilegte. Ja, ein strafender dreiäugiger Gott fixierte mich erbarmungslos, wollte mich aus meiner behütenden Mutterwelt reißen und in ein Verlies werfen, das wie ein schwarzes Loch alles Leben in sich aufsaugt.
Bis in die Gegenwart behielt dieses Bauwerk seine beklemmende Wirkung auf mich. Aber heute schüttele ich bei seinem Anblick nur innerlich den Kopf: Wie kann einem Mahnmal, das, zwischen 1900 und 1913 erbaut, in humanistischer Intention jedwede Kriegshandlung verurteilen wollte, eine solch grauenerregende Ästhetik – sowohl was die äußere als auch was die innere Gestaltung betrifft – verliehen bekommen? Was hatte man sich vor einhundert Jahren dabei gedacht? In jedem Fall war dies ein Denkmal von Männern für Männer.
Zu allen Zeiten erfuhr der Koloss eine Zweckentfremdung, die von seiner Form, seiner Lage und seiner Höhe nahegelegt wurde: Vom Plateau, dem höchsten Punkt aus, stürzten sich diejenigen Lebensmüden in die Tiefe, deren Kräfte noch zu einem Aufstieg der mehreren hundert Stufen bis zum obersten Ende des fast einhundert Meter hohen Ungetüms ausgereicht hatten. Ältere Menschen hingegen mussten mit einem Sturz in den Alkohol oder mit Tablettencocktails vorliebnehmen. Auch Gasherde waren beliebt; ganz Leipzig kochte und backte damit.

Sicherlich gab es auch im Arbeiter- und Bauernstaat Menschen, die sich vor Züge stürzten. Allerdings war da niemand, der den Reisenden darüber informiert hätte, dass man wegen Personenschadens die Fahrt kurzfristig unterbrechen müsse. Man erfuhr also nichts davon, denn in den Zeitungen wurden solche Kennziffern selbstverständlich auch nicht preisgegeben.
Aber auch heute, da die Selbstentleibung einzelner nicht mehr – wie früher in der Deutschen Demokratischen Republik – den Stolz von politischen Funktionären verletzt, die oft zu Recht in jedem vorfristig Verstorbenen einen Vorwurf witterten, den Vorwurf, nicht – wie versprochen – allen Menschen ein sinnvolles, gelingendes Leben zu ermöglichen, wagt man noch immer nicht, das Kind beim Namen zu nennen. Seien es Reste christlicher Pietät, die hier wirken, sei es der Skandal, den das Nicht-mehr-leben-Wollen in einer glückverheißenden Konsumgesellschaft, die nur Gegenwart kennt, bedeutet: ohne Euphemismen geht es auch in einem Deutschland, in dem wir gut und gerne leben, nicht ab.
Der Sprung vom “Völki”, wie das Monument in einem Sprechakt zärtlich-trotziger Verharmlosung und Respektlosigkeit, ja Sterilisierung genannt wurde – vielleicht auch in der Absicht, das Dämonische des Baus zu neutralisieren, so wie man als Kind in modrig riechenden, feuchtkalten und dunklen Kellern der vor sich hin träumenden oder zumindest dämmernden Gründerzeithäuser wie selbstverständlich und scheinbar gutgelaunt vor sich hin pfiff, um die Geister zu verscheuchen – besaß den Vorteil, dass man den letzten Blick des Lebens auf die parkartige Landschaft der Verblichenen richten konnte und somit seiner Zukunft – einer begehrenswerten Zukunft, so wollten es die Lebensmüden – direkt ins Auge sah.
Die Leipziger Behörden beschlossen Anfang der neunziger Jahre pragmatisch, diese Traditionslinie zu unterbrechen, indem sie in kurzem Abstand unter der Plattform ein grünes Auffangnetz anbringen ließen. Grün ist die Hoffnung. Und wer wollte sich in der Stunde seines Abschieds in einem Fischernetz wiederfinden, das von professionellen Menschenanglern zurück auf Start gezogen wurde?
Aus Pathos würde Peinlichkeit. Aus einem ähnlichen Pragmatismus heraus wurde auf halber Höhe ein seit 1913 vorhandener, aber seit Kriegsbeginn nicht mehr benutzter Fahrstuhl erweitert und in Betrieb genommen. Der Aufstieg mittels der reinen Beinkraft verkürzte sich dadurch spürbar und war unter dem Strich weniger beschwerlich. Man musste ja auch an die vielen betagten Touristen denken … Außerdem befreite man im Rahmen einer Totalsanierung das ganze Denkmal von seiner Rußschicht – für sehr viel Geld.
Die Jahre vergehen, die Luftverschmutzung setzt ihr Werk fort, und der Bau hat schon fast wieder sein altes bösartiges Gesicht angenommen. Auch die grüne Reuße war wieder entfernt worden. Das übergreifende Moment jeder Revolution ist die Kontinuität unter der Oberfläche.
Ich weiß nicht, wohin sich die heutigen Melancholiker und Depressiven träumen. Aber eines ist gewiss: Ihre Zahl nimmt keineswegs ab. Völlig unabhängig vom Regime, das eine Gesellschaft prägt, scheint es eine relativ konstante Anzahl von Menschen eines Landes zu geben, denen nicht zu helfen ist, denen kein Sinnangebot den Umstand ihrer Existenz zu rechtfertigen vermag und das sie mit ihrem Auf-der-Welt-Sein versöhnen könnte. Immerhin dürfen sie heute am Tisch der Allgemeinheit Platz nehmen und nicht, wie zu christlichen Zeiten, an einem Katzentisch.
Auf dem Gottesacker Südfriedhof hingegen weht noch der Wind des 19. Jahrhunderts. Den Verstorbenen wurde damals viel Raum gegeben. Ihre Gräber und Grabmale sind umrankt von Efeu, Trauerweiden, Moosen und wilden oder gepflanzten Blumen. Sauber verschnittene Buchsbäume, üppige Sträucher, Rhododendronhecken, hochgewachsene Bäume aller Art und Herkunft zieren den schier endlosen und labyrinthischen Totenpark. Allenthalben treiben Eichhörnchen ihr tolles Spiel miteinander und mit den Spaziergängern. Der Trauernde nimmt auf einer steinernen Bank Platz in dieser Begegnungsstätte aller Wesen dieser Erde, der lebenden und der toten.
Zeigt das “Völki” die Kämpfenden, so der Friedhof fast ausschließlich ihre Opfer. Und findet sich tatsächlich einmal eine männliche Figur, dann bestimmt in Kriegerpose.
Bei meinen damaligen meditativen Streifzügen stieß ich eines Wintertages auf eine mir nie zuvor begegnete steinerne Frau in Lebensgröße. Plötzlich stand sie mir gegenüber. Ich war fasziniert. Zwar sah sie mich nicht an. Ihr Blick war gesenkt. Ein wallend-weites bodenlanges und ärmelloses Gewand verhüllte ihren Körper. Auf dem Kopf trug sie einen griechisch anmutenden Helm. Dieses Motiv findet man des Öfteren im Gräberpark. Dennoch war etwas Besonderes an ihr.
Die Figur war kein Bestandteil eines Grabreliefs. Sie stand vollkommen frei am Rande eines Weges, und man wusste nicht gleich, zu welchem Verstorbenen sie gehörte. Ihr linker, grazil geformter und leicht angewinkelter Arm mündete in eine feingliedrig geformte Hand. Der rechte Arm aber war bis oberhalb des Ellenbogens abgebrochen. Der Stumpf stand leicht vom Oberkörper ab, sodass man erahnen konnte, in welcher Bewegung die Entrückte vom Walten der dreizehnten Fee in Erstarrung versetzt worden war.
Es entstand der Eindruck, sie sei im Kampf mit erbarmungslosen Kriegern schwer verletzt worden, wolle aber ihren vorgezeichneten Gang fortsetzen. Ihre nackten Füße waren von Sandalen eingerahmt. Die Wege um die Figur herum lagen im Schnee.

Den Betrachter musste der Impuls ergreifen, ihr einen Mantel umzuhängen und ihre Füße vor der Kälte zu schützen. Wer hat Dich schöne Seele so verstümmelt? Gegen wen hast Du gekämpft? Wer überließ Dich deinem Schicksal? Vielleicht hatte einer der martialischen Kämpfer im oberen Teil des grausigen Denkmals mit einem Schwerthieb Deinen Arm abgetrennt?
Auch diese Krieger richten ihren Blick nach unten oder vielleicht auch nach innen. Ihre Hände ruhen auf dem Knauf ihrer Schwerter. Aber Seelenruhe ist es nicht, was sie ausstrahlen. Die Ruhe vor dem Sturm, dem nächsten Waffengang (um des Friedens willen!), ist es, das aus ihren entschiedenen Minen spricht.
Ich lichtete die rätselhafte Frau ab, gab eine vergrößerte Entwicklung ihres Bildes in Auftrag, rahmte es ein und hängte es an eine jungfräuliche Wand meines Arbeitszimmers. Und dann geschah etwas Eigenartiges: Auf keinem meiner noch folgenden Spaziergänge im Labyrinth traf ich die Griechin noch einmal an.
Mein unterentwickelter Orientierungssinn ließ mich den Weg zu ihr nicht wiederfinden. Vielleicht aber hatte man sie auch entfernt. Oder sie ist dem Mitte der neunziger Jahre einsetzenden Friedhofsvandalismus und Diebstählen zum Opfer gefallen. Für mich gab es sie nur noch in Form einer fotografischen Reproduktion.
Das Seltsame oder vielleicht auch bloß Faszinierende des Vorgangs bestand nun aber darin, dass meine Fotografie mit mir zusammen alterte: Zusehens verloren die Farben des Bildes ihre Intensität, bis sie gänzlich verschwanden. Übrig blieben graues Braun und braunes Weiß. Die Kontraste und die Schärfe des Bildes nahmen immer mehr ab: Die Übergänge wurden weicher, der Schnee verband sich mit dem Erdreich, den irdenen Wegen.
Die Grabsteine, im Hintergrund ohnehin eher erahnt als erkennbar, waren kaum noch als solche zu erkennen. Und meine steinerne Freundin verschmolz allmählich mit ihrer Umgebung. Sie löste sich Tag für Tag ein bisschen mehr auf – aus Mitempfinden für die unzähligen Verwesenden um sie herum? Oder weil auch sie dem Tod, dem Allesverweser, auf die Dauer nichts entgegenzusetzen hatte, sie dem Gesang der Sirenen nicht widerstehen konnte?
Ich hätte nun Nachforschungen anstellen, ein Bild vom Bild anfertigen und es Kennern des Friedhofs zeigen können. Aber ich zögerte zunächst und entschied mich dann, diesen Weg nicht einzuschlagen. Was hätte ich davon, eine jungfräuliche, restaurierte und unversehrte Griechin zu sehen, sie zu reproduzieren und mein altes Bild durch das neue zu ersetzen? Wenn sie wieder einen vollständigen Arm hätte, die Schatten von ihrem Gesicht und den Falten des Kleides genommen würden – könnte sich die Fantasie noch an ihr entzünden? Verlöre die Figur nicht recht eigentlich ihren Reiz, ihren Zauber, ja ihre Aura? Käme noch einmal das Gefühl auf, sie sei „eine von uns“? Es ist die Natur, es sind die Wetter, die den steinernen Frauen eine Art Tiefenschärfe verleihen, eine vierte Dimension: die Zeit.
Quellen und Anmerkungen
(1) Die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 war eine Schlacht der sogenannten Befreiungskriege. Die Truppen einer Allianz aus Russland, Preußen, Österreich und Schweden sowie kleineren Fürstentümern (und unterstützt durch das Vereinigte Königreich) siegten über die Armee Frankreichs und seiner Verbündeten (Herzogtum Warschau, Rheinbund mit Sachsen, Baden, Hessen, Württemberg, Westphalen, Bayern, Berg sowie Italien und Neapel) unter Napoleon Bonaparte. Nach der Niederlage zogen sich die Franzosen aus den Gebieten des heutigen Deutschland zurück und der Rheinbund, eine Stütze der Herrschaft Napoleons, brach zusammen. An der Schlacht waren insgesamt bis zu 600.000 Soldaten beteiligt, über 120.000 wurden getötet oder verwundet.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Die verschwindende Frau” von Beate Broßmann erschien erstmals im August 2021. Es wurde Neue Debatte von der Autorin zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und erscheint in leicht aktualisierter Form. Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Quellen und Anmerkungen ergänzt.
Fotos: Gemälde von Vladimir Moshkov (Gemeinfrei), SteffenG (Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29315422) und Beate Broßmann.
Beate Broßmann (Jahrgang 1961) wurde in Leipzig geboren. Sie absolvierte erfolgreich ein Philosophie-Studium im Sinne von "Erkenntnisliebe". Vor der Wende in der DDR galt ihr Engagement demokratischen Reformen. Sie war später Mitglied der oppositionellen Vereinigung "Demokratischer Aufbruch". 2018 bis 2021 publizierte sie als Autorin auf "Anbruch". Seit 2020 veröffentlicht Beate Broßmann im Magazin TUMULT.