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Still sein: Wir werden jetzt bis zwölf zählen …

Ich glaube, dass wir alle entrümpelt werden mit der Zeit, bis wir uns nicht mehr als die Person wahrnehmen, für die wir uns so lange gehalten haben.

Wenn ich aus dem Fenster sehe, blicke ich durch einen glitzernden Perlenvorhang aus Regentropfen. In der tief hängenden Wolkendecke sind keinerlei Strukturen erkennbar. Das Patrizierhaus gegenüber glänzt unter den Rinnsalen, die an seiner frisch gestrichenen weißen Fassade herunterfließen. Ich mag diesen in schwarzgrau gewickelten Tag. In ihm ist der menschliche Lärm vorübergehend abgeschaltet. Nur der Sturm ist zu hören, der sich in die Stadt verbissen hat.

Ich beginne innerlich zu jubilieren, als sich die ersten Dachziegel lösen und die geschundenen Straßenbäume ihre Äste festzuhalten versuchen.

Plastikfetzen kleben knatternd im Gestrüpp. Die Verirrten dort unten in meiner Straße stemmen sich mit offenen Mündern gegen die Böen, die ihnen die Haut von den Knochen reißen möchten, unterdessen klappern die Bogenlampen mit den Neongebissen, als beklagten sie das Ende alles Statischen. Die kleine Reinigung tut gut, ich wünschte sie mir allerdings gründlicher.

An Tagen wie diesen empfinde ich die Einsamkeit alles Lebendigen. Es ist dieses „Ganz-für-sich-Sein“, was mich fasziniert und in den Zustand der Ruhe versetzt. Ich bin gerne allein. Erst im Alleinsein entwickle ich das Gefühl, Teil des ganzen Erdkörpers zu sein, eine Mikrozelle unter Abermilliarden anderer. Allein? Lachhaft. Keine Vorstellung mehr von sich selbst zu haben, nicht mehr verhaftet zu sein durch Verstand und Intellekt, zu leben, was man im Kern ist, nämlich ein mit allem verbundenes Wesen, welches sich zu Hause fühlt – das ist die wahre Befreiung.

All die Zeit hinter uns, als wir versunken waren im Schlamm von Ehrgeiz, Meinung, Eitelkeit, Angst und Vorurteil, gleitet dahin, wie eine FFP-Maske elbabwärts. Kennen Sie das, wenn Sie im Traum denken, shit, das habe ich doch alles schon einmal geträumt!? Ich besteige eine mir bekannte Wendeltreppe, sogar die eingeritzten Namen und Herzen in der Kalkwand sind mir vertraut, auch das Knarren der Holzstufen. Irgendetwas treibt mich wieder auf den geheimnisvollen Dachboden, von dem kolportiert wird, dass sich dort nur unnützes Gerümpel befindet. Außerdem bestünde Einsturzgefahr, weshalb von einem Besuch dringend abzuraten sei.

Dieser Dachboden, verrät mir eine innere Stimme, ist ein Fundus, für die gesamte Menschheit, voll gestellt mit Artefakten aller Art, mit zeitlosen Möbeln, Gemälden, Musikinstrumenten, Truhen, Partituren, Totems, einer Sammlung kostbarer Bücher in verschiedenen Sprachen, Skulpturen, Schreibwerkzeugen etc., etc. Allerdings mag sich dort schon lange niemand mehr bedienen, weshalb man die Kostbarkeiten unter einem weißen Laken bedeckt hält, um sie vor totaler Verstaubung zu schützen.

Meine Neugier führt nun dazu, dass ich an der einen oder anderen Stelle vorsichtig am Linnen zupfe. Dabei habe ich das untrügliche Gefühl, als würde wieder Leben in den Raum gespült, der durch das Desinteresse der Google-Generationen in Vergessenheit geraten war. Mit jedem Zentimeter, den ich das schützende Leinentuch in meine Hände nehme, wird es heller und klarer um mich herum, wobei die ans Licht tretenden Gegenstände energetisch im Verbund zu wirken scheinen.

Bald weiß ich nicht mehr, was ein Klavier ist, eine Vase, ein Ring oder ein Renoir, weil all dies vor meinen Augen in einen Strudel gerät und abgesaugt wird, um schließlich in einem Schmelztiegel zu verschwinden, in dem die Zeugnisse sämtlicher Kulturen – der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – eins werden: atemberaubend und jeden Gedanken im Keim erstickend.

Ich glaube, dass wir alle “entrümpelt” werden mit der Zeit, bis wir uns nicht mehr als die Person wahrnehmen, für die wir uns so lange gehalten haben.

“Ich habe kein Urteil über mich und mein Leben”, schrieb der Begründer der analytischen Psychologie C. G. Jung (1) kurz vor seinem Tod, “in nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung – eigentlich von nichts. Ich weiß nur, dass ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als ob ich getragen würde. Ich existiere auf der Grundlage von etwas, das ich nicht kenne. Trotz all der Unsicherheit fühle ich eine Solidität des Bestehenden und eine Kontinuität meines Soseins“.

Carl Gustav Jung 1935. (Foto: ETH-Bibliothek, gemeinfrei)
Carl Gustav Jung 1935. (Foto: ETH-Bibliothek, gemeinfrei)

Diese Befindlichkeit ist das Ergebnis eines Abstreifungsprozesses. Wir streifen sämtliches Wissen und alle daraus erwachsenen Glaubensgrundsätze ab, die zu dieser unsäglichen Verdüsterung geführt haben, in der wir uns durch die Zeit urteilten. Sich intensiv schrubben – das ist der Weg zurück ins eingestandene Nichtwissen, zurück ins Urvertrauen und somit zur Angstfreiheit.

Es ist kein Versprechen auf Glück, es ist das Ergebnis einer langwierigen Reinigung, in der all unsere bisherigen Sichtweisen aufbrechen und als Placken zu Boden fallen, wo sie sich krümmen und vertrocknen. Übrig bleibt eine freigelegte zarte Membran, mit der wir die Schwingungen des universellen Konzerts endlich wahrzunehmen vermögen.

Still sein

– Pablo Neruda (2)

Wir werden jetzt bis zwölf zählen.
Und dann alle ganz still sein.
Einmal nur wollen wir
nicht in unseren vielen Sprachen sprechen,
nur für eine Sekunde völlig ruhig sein,
und nicht so viel mit unseren Händen spielen.

Es wäre ein ungewohnter Augenblick,
ohne Hektik, ohne den Lärm von Maschinen und Mündern.
In einem einzigen Augenblick
wären wir alle von einer plötzlichen Befangenheit befallen.
Die Fischer auf den kalten Meeren
würden keine Wale töten.
Und der Arbeiter in der Saline
würde seine geschundenen Hände wahrnehmen.
Jene, die Schreibtischkriege führen,
jene, die mit Feuerwaffen Krieg führen,
die Siege ohne Überlebende vorbereiten,
würden saubere Kleider anlegen
und zusammen mit ihren Brüdern
im Schatten lustwandeln und nichts tun.

Was mir da vorschwebt, möge niemand
mit völliger Passivität verwechseln.
Die Rede ist vom Leben;
ich will nicht in den Spuren des Todes wandeln.

Wären wir nicht so einseitig
auf dauernde Geschäftigkeit eingestellt,
um den vermeintlichen Schwung
in unserem Leben aufrechtzuerhalten,
könnten wir nur einmal wirklich „nichts“ tun,
vielleicht würde eine gewaltige Stille
unsere Traurigkeit unterbrechen;
die Traurigkeit darüber,
dass wir uns nicht verstehen
und uns mit dem Tod bedrohen.

Vielleicht kann die Erde uns lehren,
dass es den Tod gar nicht gibt,
Wenn alles tot zu sein scheint,
und sich später zeigt, dass nichts tot ist.
Und nun werde ich bis zwölf zählen
und Ihr werdet ganz still sein,
und ich werde hinausgehen.
Pablo Neruda 1966 während einer Tonaufnahme. (Foto: USGov, gemeinfrei)
Der Dichter und Diplomat Pablo Neruda 1966 während einer Tonaufnahme. (Foto: USGov, gemeinfrei)

Quellen und Anmerkungen

(1) Carl Gustav Jung (1875 bis 1961), meist kurz C. G. Jung genannt, war ein Schweizer Psychiater. Er begründete 1913 die analytische Psychologie. Populär wurde sein 1964 herausgebrachtes Buch “Der Mensch und seine Symbole”.

(2) Pablo Neruda (1904 bis 1973) war Dichter, Schriftsteller und Diplomat. Er setzte sich vor allem gegen den Faschismus in seinem Heimatland Chile und in Spanien ein. 1971 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Neruda, der eigentlich Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto hieß, starb am 23. September 1973, knapp zwei Wochen nach dem Putsch in Chile unter Führung von Augusto Pinochet. Als Todesursache wurde sein Krebsleiden genannt, Indizien deuten aber darauf hin, dass Neruda ermordet wurde.

Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Dirk C. Fleck erschien erstmals im September 2022 bei apolut.net unter der Headline “Wir werden jetzt bis zwölf zählen …“. Es wurde Neue Debatte vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Hinweise, Anmerkungen und Fotos ergänzt.

Foto: Himmel S (Unsplash.com), ETH-Bibliothek und USGov (beide gemeinfrei)

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Von Dirk C. Fleck

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

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