Budapest. Dohány utca, die Tabakgasse, an deren Ende die große Synagoge steht, die größte Europas. Also mitten im jüdischen Viertel, das historisch und aktuell zugleich ist. Ranzige Fassaden einstiger Betriebe neben lebendigen Geschäften, in denen die Regsamkeit zu Hause ist. Dass sich ausgerechnet hier ein zeitgenössisches Ausgehviertel etabliert hat, ist nicht von ungefähr.
Die Nomaden dieser Welt zieht es immer wieder zueinander. Die Idee, die Geschichte in das Jetzt herüberzuholen, mag sich in Gesellschaften, die sich im Umbruch befinden und deren Tempo hoch ist, besser durchsetzen als in etablierten.
Das Hotel ist ein ehemaliges Bad. Alles inspiriert und passt, und ich wage mir nicht vorzustellen, was deutsche Bauvorschriften aus diesem Projekt gemacht hätten. Aber ich genieße den Augenblick. Ich bin in Budapest. Genauer gesagt in Pest, Buda liegt auf der anderen Seite der Donau.
Ein Bild der Welt
Schon im Flugzeug schlug mein Herz schneller, als ich das Fußballstadion sah, das nach dem legendären Ferenc Puskás benannt ist: Held der ungarischen Nationalmannschaft und nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 (1) als Emigrant eine Ikone bei Real Madrid. Schon als Kind hörte ich den Namen aus dem Mund meines Vaters, wenn er mit seinesgleichen über Fußball sprach. Es hörte sich an, als sprächen sie über einen Heiligen.
Am Flughafen nichts von k. & k. (2), alles sehr modern, Transporte bestens und geräuschlos koordiniert, alles funktioniert und ist technisch à jour. Und dann im jüdischen Viertel, an der Synagoge, Kommerz und Polizei und ein Stelldichein der Auserwählten; Juden wie Amerikaner, eskortiert von hoch bewaffneter Polizei. Alltagsroutine, auch ein Bild der Welt in ihrem Zustand.
Budapest kommt mir bunter und freier vor, die Jugend probiert vieles aus und hat noch nicht die Kodizes gefunden, die wie ein Maulkorb wirken können. Es ist jener Moment der Freiheit, auf dem noch nicht das Preisschild zu sehen ist.
Chinesen, die umherlaufen, inhalieren beflissen die fremde Kultur. Panoramen können schön sein, aber sie sind kein Bild des richtigen Lebens. Das ist dort zu finden, wo keine Kameras stehen. Und eines wird schnell deutlich, auch hier: Der Widerspruch von Stadt und Land muss immens sein.
Alles riecht und schmeckt hier nach Viel-Völker. Selbst auf den Tischen der genuin ungarischen Lokale. Und im immer ausgebuchten Mazel Tov! (3) Auf den hiesigen Speisekarten gibt es noch Chicken Kiev, das auch bei uns vor langer Zeit offeriert wurde, aber dann aus der Gastronomie verschwand. Kommt es jetzt zurück? Der Krieg als Anlass für eine weitere Geschäftsidee?
Alter Glanz, neue Dynamik
Die Schuhe am Donauufer. Dort, wo faschistische Milizen aus Jux mit Pfeil und Bogen auf Juden schossen und sie in den Fluss fielen; tot oder blutend, wen interessierte das schon. Mein erster Gedanke, in Anbetracht des Zustandes unserer Welt, hört denn das nie auf?!
In dieser Stadt ist alles im Umbruch. Und alles wird von Jazz-Musik begleitet. Wohltuend, zumindest mir erschließt sich dadurch vieles. Alter Glanz weicht der Dynamik.
Abends in einem alten ungarischen Restaurant. Kulisse wie in einem Film aus dem letzten Jahrtausend, 70er-Jahre, Mobiliar wie Raumaufteilung. Kellner, die ihrem Beruf gerecht werden, alles im Blick, jede Regung auf den Tischen wahrnehmend, alles begutachtend, dennoch sehr distanziert und diskret.
Die Gerichte mit Namen ohne PC-Korrektur. Pork, serviced in Gypsy Style. Serviert in der Manier der alten Schule, eine kleine Schnapsfahne eskortiert das fette Ferkel. Lokale wie dieses gibt es kaum noch. Ich denke an eines in Antwerpen, das ähnlich ist und den Eindruck an das alte Europa authentisch vermittelt. Es sind Leuchttürme aus einer verblichenen Welt. Sie stehen in keinem Reiseführer und sind auf keiner App zu finden.
Kann es sein, dass die Solidarität mit der Ukraine größer wird, je weiter die Entfernung? In Heidelberg-Rohrbach gibt es mehr solcher Hinweise als in ganz Budapest.
Zimt in Budapest
Die ferngesteuerten Amöben sind hier eher selten. Wenn, dann sind es angereiste. Immer hinter ihrem eigenen Smartphone herlaufend, Botox gepimpt und OP-korrigiert, wie aus der Serie X5A. Immer wieder kontaminieren sie die Sicht. Ihre Ignoranz weckt das Gefühl tiefer Blamage für das eigene Soziotop. Es ist eine Entwicklung in zweierlei Tempi festzustellen: der Globalisierungspapp ist schneller, seinerseits der Echoraum für die meisten Touristen.
Budapest riecht nach Zimt. Immer wieder, ohne Ankündigung. Produziert wird der Geruch durch die vielen Stände mit den Chimney Cakes, übersetzt als Baumstriezel. Olfaktorisch könnte eine Metropole an einem großen Fluss schlimmer sein.
Es existiert eine Konkurrenz der Küchen. Hier das Ungarische, wenig Gemüse, wenn, sauer eingelegt, viel Fleisch, zumeist vom Schwein, fetttriefend. Und Schaschlik, das es bei uns nicht mehr gibt! Dort die Brandings der Globalisierung: Hamburger, Pizza, Tacos, Döner und die vereinigten Asiaten.
Identität und Globalisierungstrash
Dort, wo du beschaulich sitzt, wirst du umtost von Schlagbohrern und Fräsmaschinen. Der Missklang des Umbruchs. Allerweltsmarken im Herzen der architektonischen Identität. Entfernt vom Zentrum das andere Leben. Es ist wie eine Fahrt mit der Zeitmaschine. Menschen bei der Arbeit, Schüler auf dem Weg zur Schule, Flaneure in Parks, alte Leute auf den Friedhöfen. Sonnenschein und tiefer Frieden. Zurück im Zentrum. Café New York: 1 Stück Käsekuchen, 23 Euro.
Ein Rudel nach dem anderen der ferngesteuerten Amöben betritt das Etablissement, ein Pianist, der alles mit seinem Geklimper überbordet und verhunzt. Blutjunge Bedienungen mit künstlichen Wimpern in Überlänge und mit Botox-Lippen bedienen dich mit ausdruckslosen Gesichtern – eine grandiose Kulisse für den ganzen Globalisierungstrash. Dagegen in der Oper, Prokofjews Krieg und Frieden. Stehende Ovationen.
Immer wieder drängt sich ein Wort in den Vordergrund, das nur noch Historiker zu kennen scheinen: Gulaschkommunismus. Wie schön, wie romantisch, alles andere als eine negativ besetzte Diskriminierung, wie er einst gedacht war. Imre Nagy, aufrecht unterm Galgen. Budapest 1956! Schwere Kost in den Markthallen. Rollende Buchgeschäfte, anscheinend liest man hier noch Bücher. Überall Menschen ohne Manierismen.
Kalligaro
Ach ja, Sport spielt eine große Rolle. Viele Stadien und Sportparks und eine Donauinsel exklusiv für alle Arten der Bewegung und Ertüchtigung.
Lektüreempfehlung: György Konrád; Das Buch Kalligaro.
Budapest. Eine Reise in Europas Zentrum. Spannend wie nie.
Quellen und Anmerkungen
(1) Beim Volksaufstand in Ungarn (23. Oktober bis 4. November 1956) erhob sich die ungarische Gesellschaft gegen die sowjetische Besatzung und die Herrschaft der kommunistischen Partei. Als Gulaschkommunismus wurde die liberalisierte Form des Staatssozialismus bezeichnet, wie sie sich in den etwa zehn bis zwanzig Jahren nach dem Ungarnaufstand herausbildete.
(2) Die Bezeichnung kaiserlich und königlich, abgekürzt k. u. k. (oder auch k. & k.), wurde in der 1867 aus dem Kaisertum Österreich entstandenen Österreichisch-Ungarischen Monarchie für die gemeinsamen Einrichtungen beider Reichshälften, also der Gesamtmonarchie, eingeführt. Das erste k (kaiserlich) stand als Kürzel für den Titel Kaiser von Österreich, das zweite k (königlich) für den Titel Apostolischer König von Ungarn des Monarchen aus dem Hause Habsburg-Lothringen.
(3) Das Mazel Tov ist eine äußerst populäre Bar im alten jüdischen Viertel von Budapest.
(4) Imre Nagy (1896 bis 1958) war ein ungarischer Politiker und Agrarökonom. Er war zweimal Regierungschef. Wegen seiner Rolle während des ungarischen Volksaufstands 1956 und seiner Hinrichtung 1958 gilt er heute als Nationalheld. Am 1. November 1956, drei Tage nachdem Imre Nagy die Neutralität Ungarns proklamiert und die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt aufgekündigt hatte, rückten sowjetische Panzerverbände in Ungarn ein und schlugen die Revolution blutig nieder.
Foto: Andre Taissin (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.