Kaum einer kennt ihre Namen. Die Polizei vielleicht, schließlich hat sie die beiden Aktivistinnen, die sich Winter und Jazzy nennen, über eine Hebebühne aus ihrem Baumhaus gezerrt und wieder auf den Boden der Tatsachen gesetzt. Wie hießen die beiden wirklich? Man weiß es nicht, sie gaben ihre Identität nicht preis, weder bei der Verhaftung noch vor Gericht. Die Polizei führte sie unter UP22 und UP64 (UP steht für unbekannte Person). (1, 2)
Es geschah im September 2018. Winter und ihre Freundin Jazzy hatten sich während der gewaltsamen Räumungsaktion im Hambacher Forst in zwanzig Meter Höhe aneinander gekettet, was ihnen den Vorwurf des passiven Widerstandes einbrachte.
Das Strafgesetzbuch droht mit Paragraf 113 Absatz 2, dem besonders schweren Fall von Widerstand – nämlich bei Gemeinschaftlichkeit. (3) Das hätte bis zu fünf Jahre Haft bedeuten können. Hat es nicht, weil ein Amtsrichter den beiden lautere Motive unterstellte und sie lediglich zu 40 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilte.
Hintergrund der Geschichte: Der Stromkonzern RWE will den Hambacher Forst abholzen, um Braunkohle zu fördern. Der Hambacher Forst ist ein noch etwa 500 Hektar großer Wald zwischen Köln und Aachen. Bereits 1978 wurde dort mit dem Braunkohletagebau begonnen. Seitdem entstand zwischen Bergheim und Jülich das “größte Loch Europas” (4).
Auf einer Fläche von 85 Quadratkilometern drangen die Bagger in Tiefen von über 400 Metern vor, um die Kohle zu fördern. Bis Ende 2017 wurden bereits mehrere Tausend Hektar Landschaft zerstört. Und trotz eines erwirkten Rodungsstopps und dem geplanten Auslaufen der Braunkohlengewinnung im Jahr 2029 ging die Landschaftszerstörung ungehindert weiter.
Ungehindert? Oh nein, seit 2012 haben Umweltschützer den Wald besetzt. Bis über sechzig Baumhäuser wurde errichtet. Am 14. Oktober 2018 setzten sich für RWE tausende schwer bewaffnete Polizisten in Marsch, um den Wald zu räumen. Die Aktion war erfolgreich, die meisten der Baumhäuser konnten zerstört und die Aktivisten verhaftet werden. Alles gut, funktioniert doch, mögen sich die verantwortlichen Wirtschafts- und Politgangster gesagt haben.
Womit sie garantiert nicht gerechnet hatten, war die enorme emotionale Wucht, die ein Video ausgelöst hat, in dem eine zutiefst aufgewühlte Winter inmitten betreten dreinschauender Polizisten ein herzerweichendes Statement aus Wut und Trauer abgibt. Innerhalb weniger Tage wurde es allein auf Facebook über zwei Millionen Mal aufgerufen. Plötzlich stand die ganze Bagage, die uns zu Bewohnern eines anderen Planeten machen möchte, nackt da. Bitte schaut euch das Video an.
Winter legte in einem offenen Brief aus der Untersuchungshaft noch einmal nach. Beim Schreiben stockt einem ja nicht die Stimme, man sieht die Tränen nicht und die Botschaft kommt unmissverständlich durch. Ich werde Winters Brief im Original stehen lassen, denn wer ihn zu lesen versteht, wird ohnehin bei ihr sein und sich vielleicht daran erinnern, worum es im Leben wirklich geht:
“Ihr sperrt uns ein und bestraft uns, weil wir selbständig denken und handeln, selbst entscheiden, was richtig ist und was nicht. Dabei ist es doch das, was uns als Menschen ausmacht: Ethik, Autonomie, Selbstbestimmung, Empathievermögen, zukunftsgerichtetes Denken, unsere Einheit aus Körper, Seele und Geist.
Aus all diesen Eigenschaften entsteht auch eine besondere Verantwortung und ihr wollt, dass ich diese Verantwortung wegstoßen soll und rücksichtslos und egoistisch handle?
Ihr wollt, dass ich meine Augen und Ohren verschließe?
Eine Hülle, ein Roboter werde, der nur Befehle ausführt, gehorcht?
Das kann ich nicht.
Wie könnt ihr verlangen, dass ich mein Menschsein verleugne oder dem Profitdenken eines einzelnen Konzerns oder einiger machtgieriger Politiker*innen unterordne?
Wie könnt ihr von mir verlangen, so zu tun, als ob das Morgen egal wäre, wo doch alles in unserem System auf die Zukunft aufbaut?
Was sind denn Versicherungen, Testamente, Patientenverfügungen, Rente oder Gesundheitsvorsorge?
Wir sind Menschen und wir wissen, was “Zukunft” ist. Wie also könnt ihr von mir verlangen, an der Zerstörung unserer Lebensgrundlage und der unserer Kinder mitzuwirken, meine eigene Zukunft kaputtzumachen?
Ich habe es nicht immer gewusst, aber wir brauchen den Wald so sehr. In küstenfernen Regionen gibt es ohne Wald zu wenig Regen, ohne Regen gibt es keine Landwirtschaft, ohne Landwirtschaft zu wenig zu essen. Wir können keine Braunkohle essen oder trinken.
Ihr wollt das nicht wahrhaben, für euch sind es nur Bäume. Ihr werdet es erst verstehen, wenn es so weit ist.
Ihr sagt mir, ihr findet es an sich gut, was ich mache, aber es sind die falschen Mittel, es wäre zu extrem.
Hmm. Wie extrem ist den diese Räumung?
Als ich vom Wald weggefahren wurde, konnte ich die riesige Schlange an Polizeiautos, Maschinen, Räumpanzern etc. noch einmal sehen. Und ich wusste, es ist nur ein Bruchteil dessen, was sich noch im Wald befindet.
Ich musste fast lachen, weil es so lächerlich war. Weil ich wusste, wir gewinnen, egal wie es endet, denn ihr habt nicht mal etwas, um das ihr kämpft.
Ihr nennt uns extrem, weil wir anders, weil wir konsequent sind, weil wir verteidigen, woran wir glauben. Weil wir davon nicht ablassen können, sonst würden wir uns selbst verraten. Wir saßen im Loch, konnten uns kaum bewegen. Konnten uns kaum umdrehen, konnten uns nur ansehen und Mut zusprechen, trösten.
Ihr kamt von mehreren Seiten, habt das Dach über unseren Köpfen aufgeschlitzt, habt die Wand hinter uns weg gehauen. Ihr habt unser Leben zerrissen.
Und dann werft ihr uns Gewalt vor?
Manchmal habe ich mich morgens bedankt. Für eine wunderbare erholsame Nacht, für ein Aufwachen am richtigen Ort, für dieses riesige Geborgenheits- und Zufriedenheitsgefühl.
Ich wusste nie, rede ich mit dem Baumhaus oder dem Baum? Es war ein Wesen. Ein Wesen, das bereitwillig etwas von uns Geschaffenes getragen hat, mit dem wir zusammengelebt haben, geträumt haben.
Wir hatten solche Angst um die Bäume als es nicht regnete. Wir dachten, irgendwann fallen sie einfach um, haben keine Kraft mehr. Sie wurden gelb, aber sie sind so stark.
Sie mussten schon soviel durchmachen, es ist Unrecht Grundwasser abzupumpen, es ist so ein Riesenunrecht!
Ihr habt gelacht, als wir euch panisch angeschrien haben, dass ihr das Leben unserer Freundin auf dem Skypod gefährdet. Wir haben geschrien und geschrien und ihr habt das eine Seil gekappt.
Nur die Reibung hat es gehalten. Wer begeht hier Verbrechen?
Wir machen euch Angst, weil wir nicht in eure Schemata passen, weil das, was uns antreibt, nicht Macht oder Geld sind, sondern die Liebe zum Leben selbst, der wilde Drang nach Freiheit und die Wut auf jene, die uns das alles nehmen wollen.
Wenn ich euch meine Identität verrate, komme ich hier raus. Also werden viele von euch denken, ich bin selbst schuld, dass ich hier sitze.
Aber meine Identität ist nicht das, was auf einem Stück Papier steht.
Meine Identität ist das, was mich als Menschen ausmacht, mein Wesen, meine Seele, alles, was ich in diesem Wald gelernt habe, alles, was mir die Menschen dort gezeigt haben.
Das, was ich irgendwie verlieren würde, wenn ich euch meine Personalien sagte. Mich auf diese Wörter reduzierte.
Ich will das ungerechte und ungerechtfertigte Privileg eines deutschen Passes nicht nutzen. Ich will solidarisch sein mit denen, die aus Repressionsgründen ihre Personalien nicht angeben können.
Ich bin ein Mensch und ich kämpfe für den Erhalt dieser Erde. Alles andere ist unwichtig. – Winter.”
Die Liebe, soll Albert Einstein seiner Tochter einmal geschrieben haben (5), ist eine Energie, die man physikalisch messen kann, mit der man arbeiten könnte.
“(…) Wenn wir wollen, dass unsere Art überleben soll, wenn wir einen Sinn im Leben finden wollen, wenn wir die Welt und alle fühlenden Wesen, das sie bewohnen, retten wollen, ist die Liebe die einzige und die letzte Antwort. Vielleicht sind wir noch nicht bereit, eine Bombe der Liebe zu bauen, ein Artefakt, das mächtig genug ist, allen Hass, Selbstsucht und Gier, die den Planeten plagen, zu zerstören. Allerdings trägt jeder Einzelne in sich einen kleinen, aber leistungsstarken Generator der Liebe, dessen Energie darauf wartet, befreit zu werden.”
In meinem Buch HEROES, an dem ich gerade arbeite und in dem ich 50 Persönlichkeiten aus den letzten 150 Jahren ein Andenken setzen möchte, ist Winter ebenfalls vertreten. Meine Heroes sind Menschen, die sich dem zu allen Zeiten galoppierenden Wahnsinn unter hohen Risiken entzogen oder widersetzt haben. Menschen, die Auswege aufgezeigt haben, hin zu einer Gesellschaft, deren Zusammenhalt durch Toleranz und Verständnis geprägt ist. Wobei ich darauf achten werde, nicht ins oberste Regal zu greifen, wo die prominenten Namen lagern. Ich möchte auf jene Helden aufmerksam machen, deren Geschichte nicht schon überall breitgetreten wurde.
Quellen und Anmerkungen
(1) taz (29.9.2018): Aus dem Hambacher Forst in den Knast. Wie geht es Aktivistin “Winter”? Auf https://taz.de/Aus-dem-Hambacher-Forst-in-den-Knast/!5536492/ (abgerufen am 14.5.2023).
(2) Hambi bleibt (31. Januar 2020): Knasttagebuch Jazzy Teil C. Auf https://hambacherforst.org/blog/category/jazzy-winter/ (abgerufen am 14.5.2023).
(3) Buzer.de (Strafgesetzbuch): § 113 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Auf https://www.buzer.de/113_StGB.htm (abgerufen am 14.5.2023).
(4) WDR (26.11.2019): Hambacher Loch: Das größte Loch Europas. Auf https://www.ardmediathek.de/video/quarks/hambacher-loch-das-groesste-loch-europas/wdr-fernsehen/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTVmYWIzNjNjLTM1ZWMtNDU4MC1iZjRjLTg3ZmRhOTE3YWY2Mg (abgerufen am 15.5.2023).
(5) Lieserl Marić (bzw. Lieserl Einstein; 1902 bis unbekannt) war das erste Kind von Mileva Marić und Albert Einstein. Die Existenz des Kindes wurde erst 1987 bekannt, nach der Veröffentlichung der 1986 entdeckten Briefe Einsteins an seine Freundin (und spätere Ehefrau Mileva Marić). In diesen Briefen wird das Kind erwähnt und als “Lieserl” bezeichnet. Der tatsächliche Name und das Schicksal des Kindes sind aber unbekannt. Es ist zudem strittig, ob Einstein selbst Briefe für die Tochter verfasst hat.
Foto und Video: Artem Maltsev (Unsplash.com) und Politische Bildung (Channel auf YouTube)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „Winter: Die Macht der Ohnmacht“
Genau das ist den Menschen abhanden gekommen. Die Verbundenheit mit der Seele von Mutter Erde. Naturvölker und Schamanen haben diese kosmische Intelligenz erfahren, die jeden egozentrischen Verstand verblassen lässt. Winter wird diese Liebe, diese Erkenntnis immer in sich tragen, aber auch die Hoffnungslosigkeit/Ohnmacht, weil die Menschen es nicht mehr erkennen können und gegen materiellen, vergänglichen Profit eingetauscht haben. Der Wald, die Natur werden irgendwann wieder wachsen und erblühen, aber die meisten Menschen werden es wohl nicht mehr erleben.