Es ist bereichernd, sich in der Literatur Zentraleuropas umzuschauen. Dort, wo hautnah die Zeit des Kalten Krieges hinter dem, was im Westen der Eiserne Vorhang genannt wurde, erlebt werden konnte. Die Menschen wurden Zeugen all dessen, was im letzten Jahrhundert in Europa den Nerv traf:
Der Krieg mit seinen Verwüstungen, die Teilung des Kontinents, die Herrschaft der einen Supermacht, die Aufstände dagegen und deren Niederschlagung.
So ziemlich alles, was zwischen Hoffnung und Depression liegt, fand in Zentraleuropa statt. Und die Literaten, sie befanden sich mal im Gefängnis, mal im inneren und mal im äußeren Exil. Ihre Beobachtungen und ihre Erfahrungen sind aus heutiger Sicht, wo die Ost-West-Konfrontation in Europa eine blutige Renaissance erfährt, von unschätzbarem Wert.
Das Buch Kalligaro von György Konrád
Der Ungar György Konrád (1933–2019) war so ein Vertreter. Seine Essays reflektierten das von ihm erlebte Zeitalter, seine Romane gingen unter die Haut und sein politisches Wirken klingt aus heutiger Sicht wie die unterlegene Klugheit. Denn er sprach sich für ein friedliches, demokratisches und neutrales Zentraleuropa aus.
Wie in einem Brennglas ist vieles in seiner späten Veröffentlichung “Das Buch Kalligaro” versammelt. Dort lässt der sich damals im achten Lebensjahrzehnt befindliche sein Leben in der Kunstfigur Kalligaro Revue passieren. In kurzen Aperçus, Reflexionen und Reminiszenzen lassen sich Kapitel identifizieren, die es in sich haben.
Man trifft auf die wechselhafte Geschichte Budapests, es zeigen sich die Zweifel eines Schriftstellers, der unter Gefahr gegen den Strom zu schwimmen hat, es birgt tiefe Einblicke in die Gefühlswelt eines Juden bei dem Gedanken an die Verheerungen des Mordens und der Verfolgung. Man kann sich ergötzen an dem beißenden Witz derer, die in der Illegalität zu Hause sind, die Revolution gibt ein Ständchen, der Begriff des Gulaschkommunismus gewinnt an Kontur und der kritische Blick auf das Altern und den damit einhergehenden finalen Fantasien zieht den Leser in den Bann.
Da präsentiert sich ein Schriftsteller, der sein Handwerk beherrscht und der es umso mehr schätzt, desto verlustreicher er es gegen die Kräfte der Unterdrückung verteidigen musste. Die kurzen, selten länger als eine Seite langen Ausführungen sind Ermutigungen, das Buch immer wieder zur Seite zu legen, sich den Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und sich einen eigenen Standpunkt zu dem Geschriebenen zu erarbeiten.
Große Nachdenklichkeit
Das knapp 300 Seiten umfassende Buch Kalligaro ist nichts für den schnellen Konsum. Es handelt sich um ein eigenes Genre, das vielleicht am besten als inspirierende Lektüre bezeichnet werden kann. Es liefert Informationen über den historischen Kontext des Schreibenden, dessen eigene Befindlichkeit und die unausgesprochene Aufforderung, sich selbst verhalten zu müssen. Das alles geschieht ohne dogmatischen Impetus, sondern argumentiert vom reichen Boden innerer Freiheit aus.
Wie der Autor, so werden auch die Leser zum Flaneur. Man durchschreitet die Straßen und sitzt mit dem fiktiven Kalligaro, der so konkret ist, in den Cafés des wechselvollen Budapests und atmet die grandiose, verzweifelte, inspirierende, teuflische und immer nach Freiheit strebende Geschichte Zentraleuropas ein. Die Reflexion, die dieses Buch vom Lesenden verlangt, erzeugt große Nachdenklichkeit und ein tiefes Gefühl von Demut. In Zeiten der schnellen Gewissheiten von unschätzbarem Wert.

Informationen zum Buch
Das Buch Kalligaro
Originaltitel: Kakasok bánata
Autor: György Konrád
Übersetzung aus dem Ungarischen: Hans-Henning Paetzke
Genre: Autobiografie
Sprache: Deutsch
Seiten: 292
Erscheinung: 2005 (Frankfurt 2007)
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-41883-3
Über den Autor
György Konrád (1933 bis 2019) war Schriftsteller und Essayist. Er setzte sich während des Kalten Krieges für ein friedliches und föderales Mitteleuropa ein. Als Schriftsteller beschäftigte er sich immer wieder mit dem Nationalsozialismus, dem Ungarischen Volksaufstand von 1956 und seiner eigenen Familiengeschichte. Von 1997 bis 2003 war Konrád, der als einer der bekanntesten ungarischen Schriftsteller gilt, Präsident der Berliner Akademie der Künste.
Fotos und Video: Ervin Lukacs (Unsplash.com), Lesekreis (Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25193946) und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.